Kardinal Reinhard Marx besucht "Nostels" für Flüchtlinge

Mit "Praxis"-Erfahrung ins Kanzleramt

Vor dem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Flüchtlingsfragen hat sich Kardinal Reinhard Marx Rat aus der Praxis geholt. Er war in einer ungewöhnlichen Flüchtlingswohnung zu Gast.

Autor/in:
Gregor Krumpholz
Kardinal Marx besucht "Nostel" in Berlin / © Tessa Müller (KNA)
Kardinal Marx besucht "Nostel" in Berlin / © Tessa Müller ( KNA )

"Grau" ist nach Goethes "Faust" alle Theorie. Kardinal Reinhard Marx nahm sich am Dienstag den Rat des Dichters zu Herzen. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz besuchte ein ungewöhnliches Wohnprojekt für Migranten in Berlin-Wedding. "Ich möchte mir selbst ein Bild machen", begründete er die Visite vor dem anschließenden Treffen im Bundeskanzleramt. Dort war der Erzbischof von München und Freising zusammen mit Vertretern anderer Institutionen und Gruppen eingeladen, die Flüchtlingshilfe leisten.

Nostels als Unterkünfte auf Zeit

"Guten Morgen, darf ich reinkommen?", fragt der Kardinal und zögert einen Moment. Er darf. Anna N. (Name geändert) bittet den hohen Gast freundlich in die kleine Wohnung, die ihr mit ihrem Mann und vier kleinen Kindern derzeit ein Zuhause ist. Vorläufig, denn untergekommen sind sie in einem "Nostel". Den Begriff prägte Benjamin Marx von der katholischen Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft, die in Berlin elf solcher Wohnungen unterhält. Die Wortschöpfung vereint "Not" und "Hostel" zu einem neuen Angebot auf Zeit für entwurzelte Menschen.

Anna N. und ihre Familie sind ein solcher Notfall. Auf der Suche nach einem besseren Leben strandeten sie in Berlin auf der Straße. Für Menschen wie sie konzipierte Benjamin Marx die Nostels. "Als Alternative zur Parkbank", wie der gelernte Psychologe betont. "Sprechen Sie schon etwas Deutsch?", fragt der Kardinal. Anna N. schüttelt verlegen den Kopf. "Wie lange sind Sie schon hier?", hakt Reinhard Marx nach. Es sind fünf Monate, wie mit Hilfe eines Dolmetschers klar wird. In ihrem bisherigen Leben in Bulgarien hatte es die Familie nicht leicht. "Sie gehört zur Roma-Minderheit, wie fast alle anderen Bewohner der Nostels", erklärt Benjamin Marx. "Auf dem Balkan sind sie von Bildungsangeboten immer noch weitgehend ausgeschlossen."

Sozialarbeiter unterstützen Bewohner von Nostels

Mit Unterstützung von Sozialarbeitern des Nostels kann die 30-Jährige nun zusammen mit ihrer Familie klären, wie es weitergeht, ob sie eine Bleibeperspektive in Deutschland hat oder zurückkehren muss. Die Mehrstockbetten erinnern an eine Jugendherberge und daran, dass es nur eine vorläufige Bleibe ist. Doch sonst ist alles vorhanden, was man zum Wohnen braucht, eine Waschmaschine, eine geräumige Wohnküche mit bunt bemalten Wänden. "Alles ist gut in Schuss", bemerkt Reinhard Marx anerkennend.

Mit den Nostels ist es Benjamin Marx ein weiteres Mal gelungen, für drängende Probleme eine kreative Lösung anzubieten. Ein von ihm bereits früher angestoßenes Wohnprojekt in Berlin-Neukölln für Roma vom Balkan wird bereits bundesweit als Vorzeigemodell beachtet und erhielt sogar einen Architekturpreis. "Die Kinder gehen zur Schule, und die ersten machen sogar schon das Abitur", betont der 60-Jährige mit sichtlichem Stolz.

Berliner Caritaschefin fordert weitere Unterkünfte für Flüchtlinge

Im Gespräch mit Betreuern und Flüchtlingsexperten erfährt der Vorsitzende der Bischofskonferenz aber auch manche Sorgen. So befürchtet die Berliner Caritaschefin Ulrike Kostka, dass Flüchtlingsfamilien in der kalten Jahreszeit nun in die Notunterkünfte für obdachlose Menschen kommen, "wo sie nicht hingehören". Sie fordert weitere Anstrengungen, freien Wohnraum zur Verfügung zu stellen.

Benjamin Marx mahnt mehr Unterstützung in den Heimatländern derjenigen Migranten an, die kein Bleiberecht in Deutschland erhalten. Das katholische Osteuropa-Hilfswerk Renovabis könnte mehr helfen, ihnen in etwa in Rumänien und Bulgarien Perspektiven zu eröffnen, bittet er seinen Namensvetter im Bischofsamt. "Gefragt sind nicht nur Sicherheitspolitiker, sondern vor allem Sozialpolitiker", bringt Prälat Karl Jüsten, der Verbindungsmann der Bischofskonferenz zur Bundespolitik, die Visite auf den Punkt. Dann macht er sich zusammen mit seinem "Chef" auf den Weg ins Kanzleramt.

 


Quelle:
KNA