"Kirche in Not" zur Lage der Flüchtlinge im Nordirak

"Erst waren sie traumatisiert, jetzt werden sie depressiv"

Die Außenminister der EU treffen sich heute in Brüssel, um über die Krisenherde auf der Welt zu beraten. Der geschäftsführende Präsident von "Kirche in Not", Johannes Freiherr von Heeremann, im domradio.de-Interview über die Flüchtlinge im Nordirak.

Flüchtlingsfamilie im Nordirak (dpa)
Flüchtlingsfamilie im Nordirak / ( dpa )

domradio.de: Sie kommen gerade aus Erbil zurück. Wie sieht denn dort die aktuelle Lage aus?

von Heeremann: Oberflächlich sehr viel ruhiger als im August, als ich das letzte Mal da war, kurz nach dem Überfall der ISIS auf die christliche Gegend um Karakosch. Da sah man Flüchtlinge vor dem Bischofshaus lagern, unter Sträuchern und Bäumen, an den Straßenrändern. Das ist jetzt nicht mehr. Es wurden Notunterkünfte geschaffen. Wir selbst haben auch für über 1000 Christen PVC-Carawans aufgebaut, 150 solcher Container, zum Teil gibt es noch ein paar Zelte, weil manche Leute lieber in Zelten bleiben. Aber die Menschen sind jetzt irgendwie untergebracht. Im August wirkten sie traumatisiert von diesem Erlebnis, dass das Militär einfach die Stadt räumt und der ISIS das Feld überlässt. Das hat den Menschen tief in den Knochen gesessen. Jetzt hat man mehr das Gefühl, dass sich eine Depression breit macht, das Gefühl, das kann dauerhaft so bleiben. Im August fragte ich: was wird im Winter? Da sagten sie: Da sind wir wieder zu Hause. Heute wissen sie, dass das länger werden wird und das spürt man schon. Es ist eine bedrückende Stimmung bei aller Normalität, die da eingekehrt ist.

domradio.de: Über den Winter würde ich gleich gerne noch mit Ihnen sprechen. Traumatisiert sind möglicherweise auch die Kinder, die Flüchtlingskinder in Erbil. Sie haben gerade eine Schule für sie eröffnet, sieben weitere sollen noch folgen. Wie wichtig sind denn die Schulen für die Kinder und für die ganze Region?

von Heeremann: Das fiel mir im August schon auf, dass die Hauptsorge der Eltern ist, was wird aus unseren Kindern? Dass die in ihrem Bildungsweg weiterkommen, denn das ist die Zukunftschance, die diese Kinder haben. Sie müssen sich weiter ausbilden in der Hoffnung, irgendwann Arbeit zu finden oder auszuwandern. Deswegen ist das einer der Schwerpunkte unserer Hilfen. Seit August sind wir dabei, dank der Großzügigkeit unserer Spender vier Millionen zu investieren. Davon ist ein Schwerpunktprojekt diese Schulen, so wie die, die wir eröffnet haben. So werden die alle sein. Da gehen zwei Schichten, vormittags und nachmittags, insgesamt 900 Kinder hin. Sehr diszipliniert, auffällig diszipliniert, das sind wir hier gar nicht mehr gewohnt. Gleichzeitig wird diese Containerschule - das hat mich auch sehr beeindruckt - freitags, wo in einem muslimischen Land die Schulen ruhen, Religionsunterricht gegeben für Kinder zwischen sechs und achtzehn Jahren. Da kommen auch  zweimal je 450 Kinder zusammen, vormittags und nachmittags, und werden von 60 ehrenamtlichen, gut ausgebildeten Katechese- Helfern unterrichtet. Das ist beeindruckend. Und da merkt man den Kindern auch an, dass die freier sind als die Erwachsenen. Die sind fröhlich und spielen und sind eigentlich wie normale Kinder, vor allem die kleineren Kinder. Bei den älteren und den Studenten wird das dann schon anders.

domradio.de: Die Terrorgruppe ISIS ist für ihre Gräueltaten bekannt, auch für gewaltsame Übergriffe auf Christen. Vor zehn Jahren gab es zum Beispiel in Mossul noch 35.000 Christen. Gibt es das noch, offenes christliches Leben im Nordirak?

von Heeremann: Im kurdischen Gebiet ja, also in dem, was noch unter kurdischer und irakischer Herrschaft steht. Aber jenseits der Zone, wo die ISIS die Macht hat, da gibt es keine Christen mehr. Ganz wenige, vereinzelte ältere Menschen sind da geblieben, aber christliches Leben gibt es da nicht mehr.

domradio.de: Der drohende Winter ist jetzt im Nordirak ein großes Thema. Auch dort gibt es ja Frost und Schnee. Und das kann lebensbedrohlich sein für die Menschen.

von Heeremann: Ja, in Erbil selbst gibt es Null-Grad-Nächte, tiefer geht es eigentlich nicht. Aber im Norden, in der Dohuk-Ebene, da gibt es auch Frost. Das sind Berge. Da sind wir auch dabei, mit Containern Schulen zu errichten. Die Unterkünfte sind da oben etwas günstiger, weil sie sich verteilen auf viele Dörfer und da sind es oft Gemeindezentern oder auch Schulen, wo die Flüchtlinge wohnen, wo schon Beheizungsmöglichkeiten sind. Bei den Jesiden ist es ein bisschen schwieriger, an die dranzukommen. Die sind zum Teil noch in den Bergen. Da muss noch was geschehen, damit die auch vor Frost gesichert werden.

Das Gespräch führte Tobias Fricke. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Weder domradio.de noch das Erzbistum Köln machen sich Äußerungen der Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen zu eigen.


Quelle:
DR