Stiftungsvorstand Hudelmaier zum Contergan-Aus vor 60 Jahren

"Das war ein schuldhaftes und kein schicksalhaftes Versagen"

Vor 60 Jahren wurde Contergan vom Markt genommen. Schwangere hatten nach Einnahme des Medikamentes tot oder mit Missbildungen wie fehlenden oder verkürzten Armen und Beinen zur Welt gebracht. Zu den Betroffenen gehört Margit Hudelmaier.

Autor/in:
Andreas Otto
Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan steht in einer Vitrine im Deutschen Museum / © Frank Leonhardt (dpa)
Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan steht in einer Vitrine im Deutschen Museum / © Frank Leonhardt ( dpa )

Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Frau Hudelmaier, wie kommen Sie mit Ihren Einschränkungen zurecht?

Margit Hudelmaier (Contergangeschädigte und Mitglied im Vorstand der Conterganstiftung): Ich gehöre zu jenen, deren Hände direkt an der Schulter anschließen. Ich brauche wie 80 Prozent der Betroffenen im Alltag ständig Unterstützung. Ich habe das Glück, dass mir mein Mann beim Waschen oder Anziehen hilft. Er macht auch den ganzen Haushalt. Trotz allem habe ich es geschafft, Sozialpädagogik zu studieren. Seit 39 Jahren arbeite ich als Fachberaterin in der Altenhilfe und bin zudem ehrenamtlich engagiert.

KNA: Am 27. November 1961 nahm die Aachener Firma Grünenthal Contergan vom Markt. Für Sie persönlich kam das zu spät. Hadern Sie damit?

Hudelmaier: Na klar. Nach den vielen Hinweisen auf Schädigungen hätte das Medikament schon viel früher aus dem Verkehr gezogen werden müssen. Dem standen offenbar wirtschaftliche Gründe entgegen.

KNA: Das Verfahren gegen Grünenthal wurde wegen "geringfügiger Schuld" eingestellt. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an diesen Richterspruch denken?

Hudelmaier: Contergan hat bei rund 10.000 Menschen zu exorbitanten Schäden geführt - da fehlt mir jedes Verständnis dafür, von "geringfügiger Schuld" zu reden. Aber an vielen Stellen der Gesellschaft mangelt es ja an Gerechtigkeit, gerade wenn viele Entscheidungsträger eine Rolle spielen.

KNA: Auf zivilrechtlicher Ebene kam es 1970 zu einem Vergleich: Keine Klagen mehr gegen Grünenthal gegen die Zahlung von 100 Millionen Mark Entschädigung als Grundstock für die Conterganstiftung. Kam das Pharma-Unternehmen damit zu gut weg?

Hudelmaier: Eindeutig. Das stößt mir schon sauer auf. Schon 1997 waren die Mittel alle aufgebraucht, obwohl auch der Staat dieselbe Summe in die Stiftung eingebracht hatte. Später hat die Firma weitere 50 Millionen Euro gezahlt. Aber dieses Friedensangebot hat das Unternehmen nicht umgebracht.

KNA: Der Bundesverband Contergangeschädigter wirft Grünenthal vor, den Skandal nur als Folge einer "Tragödie" zu beschreiben und nicht als Resultat eigenen schuldhaften Handelns. Vermissen auch Sie ein deutlicheres Wort der Entschuldigung?

Hudelmaier: Das war auf jeden Fall ein schuldhaftes und kein schicksalhaftes Versagen - auf die rechtzeitigen Warnungen hätte man eben viel schneller reagieren müssen. Ich bin ohne Entschuldigung 61 Jahre alt geworden - und brauche sie nicht für mein Glück. Aber jeder Betroffene hadert anders mit seinem Schicksal. Eine Entschuldigung von Grünenthal einzufordern, ist aber vergebene Liebesmühe.

KNA: Neben der Conterganstiftung hat Grünenthal ja noch eine eigene Stiftung aufgebaut...

Hudelmaier: ... ich persönlich bin zu stolz, dort einen Antrag zu stellen. Andere benötigen vielleicht die Mittel. Aber die Grünenthal-Stiftung stellt gerade mal drei Millionen Euro jährlich zur Verfügung. Das ist doch kein Vergleich zur Conterganstiftung, die pro Jahr 175 Millionen Euro ausgibt.

KNA: Mit viel Steuergeld schafft es die Conterganstiftung seit acht Jahren, den Betroffenen auskömmliche Renten bis rund 8.000 Euro zu zahlen. Welche Bedeutung hatte dieser Schritt?

Hudelmaier: Das war ein Meilenstein in unserem jahrzehntelangen Kampf. Vielen Betroffenen hat es die Zukunftsängste genommen. Wenn man wegen versteifter Gelenke mit 50 aus dem Berufsleben ausscheiden muss und vielleicht noch Kinder zu versorgen hat, dann sichert die Rente die Existenz.

KNA: Reicht das Geld, um die Versorgung der teils schwer behinderten Menschen zu gewährleisten?

Hudelmaier: Ich weiß es nicht. Solange ich mit meinem Mann lebe, der mich unterstützt, komme ich über die Runden. Aber was ist, wenn ich einmal auf fremde Pflegekräfte angewiesen bin?

KNA: Die Betroffenen beunruhigen Hinweise, dass ihre Blut- und Nervenbahnen nicht an den üblichen Stellen liegen und bei Operationen unbeabsichtigt durchtrennt werden könnten. Wie steht es um eine geforderte Studie, die Aufklärung bringen soll?

Hudelmaier: Die Finanzierung der Studie ist durch Stiftungs- und Bundesmittel gesichert und der Auftrag an die Universität Köln vergeben. Wir warten auf den Startschuss. Aber wegen Corona hat sich alles verzögert.

KNA: Wie hat der Contergan-Skandal Deutschland verändert?

Hudelmaier: Sehr. Unsere Eltern waren Pioniere der Selbsthilfearbeit: Sie haben sich selbst vertreten und nicht vertreten lassen. Ihrem Engagement verdanken wir die Aktion Sorgenkind, die heute Aktion Mensch heißt, sowie die Fernsehlotterie. Die Contergangeschädigten waren als Behinderte auch immer Teil der Gesellschaft - und sind damit zum Motor der Inklusionsidee geworden. Nicht zuletzt wurde wegen des Skandals in der Bundesrepublik die Arzneimittelzulassung und -kontrolle erstmals geregelt - ein gewaltiger Fortschritt.

KNA: Wie gehen Sie denn selbst mit Medikamenten um?

Hudelmaier: Ich habe ein sehr zwiespältiges Verhältnis dazu. Ich bin sehr dankbar, dass ich bislang keine starken Medikamente nehmen musste.

KNA: Und wie sieht es mit einer Corona-Impfung aus?

Hudelmaier: Ich bin geimpft - aber weniger aus eigener Überzeugung, sondern weil mein Mann darauf gedrängt hat. Allerdings sind zwei Bekannte schwer an Corona erkrankt, das will ich nicht erleben. Und als schwer geschädigte Person immer zu einem Test zu müssen, hätte mich auch stark belastet. Vor allem aber bin ich sehr viel auf fremde Menschen angewiesen - da muss ich mich einfach schützen.


Quelle:
KNA