Vor 20 Jahren sprach Johannes Paul II. das "Mea culpa"

Es fehlen Machtmissbrauch und sexueller Missbrauch

Mit dem großen Schuldbekenntnis "Mea culpa" wollte Papst Johannes Paul II. im Heiligen Jahr 2000 die Glaubwürdigkeit der Kirche in der Welt stärken. Der Moraltheologe Rudolf B. Hein ist angesichts der aktuellen Situation für eine Neuauflage.

12. März 2000: Papst Johannes Paul II. spricht das "Mea Culpa" (KNA)
12. März 2000: Papst Johannes Paul II. spricht das "Mea Culpa" / ( KNA )

DOMRADIO.DE: Was bedeutet so ein Schuldbekenntnis eines Papstes aus moraltheologischer Sicht?

Prof. P. Dr. Rudolf B. Hein O.Praem (Professor für Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Kapuziner in Münster): Die Moraltheologie sieht zunächst einmal die persönliche Verantwortung des Einzelnen. Insofern kann ein solches Schuldbekenntnis nur eine eingeschränkte Bedeutung haben, eine symbolische Bedeutung.

Wenn man sich die "Mea culpa"-Erklärung anguckt, dann ist es eigentlich ein liturgischer Akt. Und als liturgischer Akt ist es sicherlich eine sehr sinnvolle und auch gute Sache, das vor Gott zu tragen, was die Kirche im Laufe ihrer Jahrhunderte quasi an Belastungen angesammelt hat und mit sich herumschleppt. Wir sind natürlich in diesem Zusammenhang in einem Bereich des Exemplarischen, Symbolischen. Wir sind nicht hard-fact-mäßig im Bereich der persönlichen, sittlichen Schuld und Verantwortlichkeit.

Der Theologe und Moraltheologe Franz Böckle hat immer gesagt, es gibt drei Dimensionen der Sünde: als Tat, und da sind wir bei der persönlichen Verantwortlichkeit, als Macht, als etwas, was über die Strukturen hinweg wirkt, und als Zeichen. Diese beiden letztgenannten Symboldimensionen, Macht und Zeichen, können uns vielleicht weiterführen in einer Bewertung.

Aber es bleibt letztlich die Frage: Kann ein Papst sich für etwas entschuldigen, was andere Menschen an einzelnen Menschen vollbracht haben oder inwieweit sie sich verfehlt haben?

DOMRADIO.DE: Im Zuge des Missbrauchsskandals haben auch einige Bischöfe in Bußgottesdiensten stellvertretend um Verzeihung gebeten. Handelt es sich auch hier mehr um einen Symbolakt, von dem Sie eben sprachen?

Hein: So würde ich das auch sehen. Stellvertretung heißt auch, etwas in das Gedächtnis der Öffentlichkeit zurückzuholen; heißt, für eine Dimension von Kirche zu sprechen, die als Gemeinschaft eine sündhafte Struktur unterstützt und geschützt hat.

Von daher ist es natürlich eine sinnvolle Sache, das einfach ins Gedächtnis der Öffentlichkeit zurückzuholen und zu sagen: Ja, das ist uns bewusst. Das steht uns vor Augen. Und insofern spricht ja auch die theologische Erklärung zu "Mea culpa" von einem solchen Erinnern und einem Gedächtnisakt.

DOMRADIO.DE: Eine aktuelle Frage, die sich immer wieder stellt, ist ja auch: Ist es die Kirche, die sündigt oder sind es vielmehr ihre Glieder, die vom rechten Weg abkommen?

Hein: Auch da kann man natürlich sehr schnell in die Systematik abgleiten und sagen: Letztendlich kann die Kirche gar nicht sündigen. Wenn die Kirche, dogmatisch gesehen, die reine Braut Christi ist - so wurde das ja auch immer traditionell betrachtet -, dann kann natürlich die Kirche als Ganze, als diejenige, die immer mit Christus verbunden ist, die aus Christus hervorgegangen ist, die von Christus gestärkt und gestützt wird, nicht als solche sündigen.

Sie besteht jedoch, und das ist ja immer Bestandteil der Lehre der Kirche gewesen, aus sündigen einzelnen Mitgliedern. Und dazu zählen - bitteschön - auch Papst und Bischöfe, das muss man dazusagen. Die nehmen sich da bitte auch nicht aus und können sich auch nicht ausnehmen.

DOMRADIO.DE: Papst Franziskus bringt an dieser Stelle sehr häufig den Teufel ins Spiel, dessen Verführung der Sünder häufig erliegt. Kritiker werfen dem Papst nun vor, er mache dadurch Täter zu Opfern. Sündigt nun der Mensch aus sich heraus, oder erliegt er hier der Verführung durch das Böse?

Hein: Das führt uns zurück auf die Frage nach der sogenannten Erbschuld und Erbsünde. Das heißt, die Verfasstheit des Menschen ist natürlich immer eine, die zur Sündhaftigkeit hinneigt.

Wenn wir jedoch sagen würden, sämtliche moralischen Verfehlungen sind letztendlich einer fremden Macht anzulasten, dann führt uns das geradewegs in einen Determinismus (Lehre von der Vorbestimmtheit allen Geschehens und Handelns, Anm. d. Red.) hinein; ein Determinismus, an dessen Ende, an dessen Spitze wir den Teufel sehen.

Und die Kirche, so meine ich, hat immer versucht, sich gegen diesen Determinismus zu verwahren und zu sagen: Nein, der Mensch ist von Gott als freies Wesen, auch als sittlich freies Wesen, geschaffen und kann aus sich heraus insofern dem Bösen widerstehen. Er kann eigene Akzente im Handeln setzen, sonst wäre er komplett dem Bösen ausgeliefert.

Das führt uns ein bisschen in die Sphären der Diskussion zwischen Erasmus und Luther. Sie kennen das vielleicht: "De libero arbitrio" ("freier Willen"), Erasmus, und "De servo arbitrio" ("geknechteter Willen"), Luther. Und ich glaube, wenn wir zu sehr in diese Richtung "De servo arbitrio" hineinrutschen, dann wird es gefährlich.

DOMRADIO.DE: Das "Mea culpa" vor 20 Jahren sollte, so die Internationale Theologenkommission damals, die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in der Welt stärken. Jetzt, 20 Jahre später, scheint von dieser Glaubwürdigkeit nicht mehr viel übrig geblieben zu sein. Ist es denn jetzt Zeit für ein neues "Mea culpa"?

Hein: Ich würde sagen, ja. Ich habe mir das jetzt nochmal in Ruhe angeschaut, auch als liturgischen Akt.

Es geht gar nicht darum, in allen Einzelheiten durchzubuchstabieren, was das für die Schuld der einzelnen Glieder der Kirche bedeutet, sondern eigentlich öffentlich ins Gedächtnis zurückzuholen, was die Kirche für Verfehlungen im Laufe der letzten Jahrhunderte vollzogen hat und in welche Irrwege sie hineingeraten ist und wie das zu einer Heilung führen kann.

Das ist auch, was diese Texte und auch die Erklärungen der Theologen dazu sagen. Und das kann ich nur bestätigen. Und was ganz deutlich bei "Mea culpa" fehlt, ist die Aufarbeitung der Missbrauchsskandale - Machtmissbrauch und sexueller Missbrauch.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.


Professor Pater Dr. Rudolf B. Hein O.Praem. (Abtei Hamborn)
Professor Pater Dr. Rudolf B. Hein O.Praem. / ( Abtei Hamborn )

Papst Franziskus begrüßt die Gläubigen, als er zur wöchentlichen Generalaudienz auf dem Petersplatz ankommt / © Giuseppe Ciccia (dpa)
Papst Franziskus begrüßt die Gläubigen, als er zur wöchentlichen Generalaudienz auf dem Petersplatz ankommt / © Giuseppe Ciccia ( dpa )
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DR