Transplantationsexperte zur Widerspruchslösung bei Organspende

"Gedanke an Organspende muss selbstverständlich werden"

Nicht nur Bürger, sondern auch Ärzte denken oft nicht an eine Organspende. Das muss sich ändern, sagt der Transplantationsexperte Axel Rahmel. Im Interview spricht er über das, was den Menschen Angst macht.

Eine Organtransportbox  / © Jens Kalaene (dpa)
Eine Organtransportbox / © Jens Kalaene ( dpa )

DOMRADIO.DE: Die theoretische Bereitschaft der Menschen zur Organspende in Deutschland ist eigentlich sehr hoch. In der Praxis sieht das aber ganz anders aus. Da gibt es vergleichsweise wenig Spender. Wie erklären Sie sich das?

Dr. Axel Rahmel (Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation): Da kommen aus meiner Sicht verschiedene Faktoren zusammen. Natürlich ist es immer ein Sprung von der theoretischen Bereitschaft zur Organspende – also dass man sagt "Ich will meinen Willen dokumentieren", zum Beispiel im Organspendeausweis oder in einer Patientenverfügung – zum wirklichen Machen. Das kennen wir ja auch aus vielen anderen Lebensbereichen: Denken Sie an die Klimadebatte. Der Schritt vom Sich-etwas-vornehmen zum Tun ist mitunter groß.

Bei der Organspende kommt noch hinzu, dass man sich ja immer mit dem Thema Tod auseinandersetzen muss. Das ist ja etwas, was wir gerne von uns wegdrängen.

Ein anderer Aspekt, der vielleicht noch ganz wichtig ist: Es sind ja nicht nur die Menschen, die eine Rolle spielen, die sich entscheiden müssen. Es muss auch in den Kliniken an die Möglichkeit einer Organspende bei Patienten am Lebensende gedacht werden. Durch die Arbeitsverdichtung in den Kliniken kommt es mitunter dazu, dass genau diese Frage dann nicht gestellt wird und damit mögliche Organspender gar nicht bedacht werden. Dazu haben wir Untersuchungen gemacht, die zeigen, dass das leider immer wieder vorkommt.

DOMRADIO.DE: Woran liegt das, da arbeiten doch Experten?

Rahmel: In Deutschland kann in jeder Klinik, die eine Intensivstation hat, eine Organspende stattfinden. Tatsächlich sind Organspenden ja sehr, sehr seltene Ereignisse. Das heißt, da braucht man besondere Kenntnisse, um überhaupt daran zu denken, wenn der irreversible Hirnfunktionsausfall eingetreten ist, also der Tod des Menschen. Wenn der eingetreten ist, dann muss man eine besondere intensivmedizinische Erfahrung besitzen, um überhaupt die Kreislauffunktion bei diesem Verstorbenen aufrechtzuerhalten.

DOMRADIO.DE: Der Tod eines Menschen ist der Stichpunkt. Es gibt Menschen, die sagen: Ich habe Angst davor, dass mir Organe entnommen werden, obwohl ich noch gar nicht ganz tot bin. Was sagen Sie diesen Menschen?

Rahmel: In Deutschland ist die Voraussetzung für die Organentnahme, dass man den Tod festgestellt hat – und zwar durch den Nachweis des unumkehrbaren, unwiederbringlichen Ausfalls der Hirnfunktion. Das wird häufig verkürzt Hirntod genannt. Zur Feststellung des Todes gibt es ganz feste Regeln, die vom wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer festgelegt wurden. Die Untersuchungen müssen nach diesen festen Regeln von zwei unabhängigen Ärzten durchgeführt werden. Es ist also eine der sichersten Diagnosen, die wir überhaupt haben.

DOMRADIO.DE: Der Bedarf an Organen ist riesig. Können Sie das an einer Zahl festmachen? Wie viel Leid könnte verhindert werden? Wie viele Leben könnten gerettet werden, wenn es genügend Organspender geben würde?

Rahmel: Derzeit befinden sich fast 9.500 Menschen auf der Warteliste zur Organtransplantation. Davon warten fast 7.500 auf eine neue Niere, aber auch 850 auf eine neue Leber. Auf ein Herz warten 750 Patienten. Dann kommen noch die Patienten dazu, die auf eine Lunge oder eine Bauchspeicheldrüse warten. Das sind ungefähr jeweils 300. Diese Zahlen, die schon erschreckend genug sind, etwa 10.000, die auf ein Organ warten, sind wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. In Deutschland sind mehr als 90.000 Patienten an der Dialyse, könnten also von einer Transplantation profitieren. Aber nur etwa jeder Zehnte von ihnen steht auf der Warteliste. Das ist viel weniger als in anderen Ländern.

DOMRADIO.DE: Das Thema ist ja sehr aktuell gerade. In der Politik wird heftig über ein neues Organspendegesetz diskutiert. Gesundheitsminister Spahn schlägt vor, dass jeder Mensch, solange er nicht Widerspruch einlegt, nach dem Hirntod Organspender sein soll. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Rahmel: Das Ziel einer neuen Regelung, ganz egal welche neue Regelung kommt, muss es ja sein, den Willen derjenigen Menschen umzusetzen, die über ihren Tod hinaus anderen Menschen mit einer Spende helfen wollen. Voraussetzung dazu ist natürlich, dass jeder Bürger sich entscheidet. Da hapert es, wir haben ja am Anfang drüber gesprochen. Deswegen ist es ganz wichtig, dass man eine Lösung findet, die dazu führt, dass tatsächlich der Wunsch der Menschen umgesetzt wird.

Die Widerspruchslösung, die jetzt im Raum steht, von Herrn Spahn, wird oft sehr verkürzt dargestellt. Der Vorschlag setzt auf Autonomie. Das heißt, jeder Bürger wird aufgefordert, seine Entscheidung in einem Register zu dokumentieren. Es wird auf Aufklärung gesetzt: Bevor diese Regelung greift, soll die Bevölkerung ein Jahr lang aufgeklärt werden, damit sie genau weiß was das bedeutet. Außerdem bindet sie die Angehörigen ein, die dann im Zweifelsfall auch noch etwas dazu sagen können. Ich spreche immer von den "drei A":  Autonomie, Aufklärung, Angehörige.

Was bei der ganzen Diskussion hinten runterfällt: Die Widerspruchslösung hat ja auch noch Nebeneffekte, die eine große Rolle spielen. Das Denken an die Organspende würde in den Kliniken zur Selbstverständlichkeit. Man muss dann ja immer davon ausgehen, dass jeder, der mit einer schweren Hirnschädigung verstirbt, tatsächlich ein Organspender sein könnte. Wenn die Politik und die Gesellschaft hinter der Widerspruchslösung stehen, dann wäre das natürlich auch ein klares politisches Signal. Herr Professor Nagel aus dem Deutschen Ethikrat sagt immer: "Eine Widerspruchslösung ist eigentlich eine gesellschaftliche Zustimmungslösung".

DOMRADIO.DE: Sie klingen eigentlich schon recht überzeugt von diesem Vorschlag. Es gibt aber Politiker verschiedener Fraktionen, die einen Gegenvorschlag bringen. Sie wollen, dass die Menschen gefragt werden, ob sie Organspender sein wollen – zum Beispiel, wenn sie den Personalausweis beantragen. Was halten Sie davon?

Rahmel: In vielen Elementen ist das ja ganz ähnlich: Auch da geht es um Autonomie und Aufklärung und darum, dass sich jeder entscheiden soll – also genau die beiden Punkte, die im anderen Vorschlag auch enthalten sind. Ich stelle mir nur die Frage: Wie ist das, wenn man dann tatsächlich alle zehn Jahre zum Ausweisabholen geht und man bekommt Informationsmaterial in die Hand gedrückt? Führt das wirklich dazu, dass die Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt wird?

Den Mitarbeitern in den Bürgerämtern ist es nicht zuzumuten und auch nicht von ihnen zu erwarten, dass sie eine Aufklärung zu dem Thema durchführen können. Das war mal in der Diskussion und ist jetzt ja auch nicht mehr vorgesehen. Funktionieren tut das Ganze nur, wenn wir möglichst von fast allen Bürgern in Deutschland wissen, was sie wollen. Ich glaube, man muss mehr auf die Gemeinsamkeiten schauen. 

Die Gemeinsamkeit in allen Ideen ist: Aufklärung und Selbstbestimmtheit der Menschen. Das sind ganz wichtige Aspekte. Ich bin gespannt, wie die Diskussion läuft und hoffe, dass durch die Diskussion nicht am Ende die Verunsicherung in der Bevölkerung steigt. Ich hoffe, dass die Debatte sachbezogen geführt wird mit dem Ziel, den Willen der Patienten umzusetzen.


 Dr. med. Axel Rahmel (Medizinischer Vorstand DSO) (DSO)
Dr. med. Axel Rahmel (Medizinischer Vorstand DSO) / ( DSO )
Quelle:
DR