Warum die alte Frage nach der Wahrheit heute neu diskutiert wird

Ohne Lügen leben?

​Glaubt man Studien, lügt jeder Mensch bis zu 200 Mal am Tag. Doch wem kann man überhaupt noch glauben? Angesichts vieler öffentlicher Debatten erscheint die Suche nach Wahrhaftigkeit schwieriger denn je.

Autor/in:
Paula Konersmann
 (DR)

Die Debatten um "Fake News" und "Lügenpresse"-Rufe waren nicht der entscheidende Anstoß. So erzählt es Arnd Brummer, Geschäftsführer der evangelischen Fastenaktion. Dabei passt das diesjährige Motto genau zu diesen Diskussionen: "Mal ehrlich! Sieben Wochen ohne Lügen". Es solle jedoch "um den alltäglichen Umgang mit Wahrnehmung und Wahrhaftigkeit" gehen, betont Brummer. "Die politische und mediale Ebene ist wichtig, wir wollen es aber nicht darauf verkürzen."

Eigentlich könnte es einfach sein: "Du sollst nicht lügen" ist eines der zehn biblischen Gebote, und schon früh lernen Kinder Sprichworte wie "Lügen haben kurze Beine". Und doch beschäftigt die Frage nach Wahrheit und Lüge seit jeher Philosophen, Theologen und Künstler. 395 formulierte Kirchenlehrer Augustinus eine Definition der Lüge: eine unrichtige Aussage mit der Absicht, zu täuschen.

Sind Lügen aus Höflichkeit okay?

Laut Studien lügt jeder Mensch bis zu 200 Mal am Tag. "Das ist viel", sagt Brummer. Nicht immer geht es dabei um gezielte Täuschungen: Mehr als die Hälfte der Deutschen hält es Umfragen zufolge für vertretbar, etwa aus Höflichkeit nicht ganz bei der Wahrheit zu bleiben. Von einer Notlüge sprechen viele, wenn sie jemandem etwa nicht sagen mögen, dass ein Geschenk nicht ganz ihren Geschmack getroffen hat.

Dahinter kann allerdings auch Bequemlichkeit stecken. "Die Frage ist, wie könnte ich meine Wahrnehmung wiedergeben, ohne zu lügen und ohne zu verletzen"», so Brummer.

Männer lügen mehr als Frauen

Anfang des Jahres sorgte eine Studie für Aufsehen, nach der Männer häufiger lügen als Frauen - und jüngere Menschen häufiger als ältere.

Allerdings konnten die Forscher auch nachweisen, dass Unterschiede im Versuchsaufbau das Verhalten der Probanden beeinflussen. Dies deutet nach ihrer Auffassung darauf hin, dass "Unehrlichkeit nicht einfach nur die Eigenschaft einer Person ist, sondern systematisch mit den Bedingungen der Umwelt zusammenspielt", erklärte Psychologe Ralph Hertwig.

Warum die Wahrheit sich lohnt

Wenn Politiker auf "alternative Fakten" setzen und jede noch so absonderliche Verschwörungstheorie belegbar erscheint, wird es schwierig für die Wahrheit. Ob heute mehr gelogen werde als vor einigen Jahren, müsse man untersuchen, meint der Mediziner und Jurist Rainer Erlinger. «Neu ist jedenfalls eine Verachtung von Wahrheit und Fakten - von dem, was sich prüfen und bestätigen lässt."

Erlingers Buch "Warum die Wahrheit sagen?" erscheint im März im Duden Verlag. Die Wirklichkeit stelle sich für verschiedene Menschen unterschiedlich dar, betont der Autor. «Verheerend ist es aber, den Abgleich der eigenen Eindrücke und Gefühle mit der Realität für überflüssig oder sogar kontraproduktiv zu halten."

Online lügt es sich leichter

Ergänzend zu Augustinus' Definition der Lüge hat der US-Philosoph Harry Frankfurt 1986 einen Aufsatz über "Bullshit" veröffentlicht: Er bezeichnet damit leeres Gerede, bei dem den Sprecher nicht interessiert, ob die eigenen Aussagen richtig oder falsch sind. Dieses Phänomen hat nach Einschätzung Erlingers zugenommen, "weil es ohne Rücksicht auf die Fakten einfacher ist, andere zu überzeugen und zu agitieren".

Über Soziale Medien und Chats verbreiten sich "Fake News" schneller als wahrhaftige Nachrichten. Darin liege eine Gefahr, schreibt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Themenheft zur Fastenaktion der evangelischen Kirche: "Wenn das Erfundene vorschnell für wahr gehalten wird, wenn in Zeiten umherwirbelnder Falschnachrichten der kommentierende Sofortismus regiert und nicht die Frage, ob das Gesagte überhaupt stimmt, dann hat dies Folgen in der wirklichen Welt." Das Ideal der Mündigkeit sei dadurch bedroht. Erlinger formuliert es so: "Wenn das Vertrauen und die Kommunikation durch Lügen gestört werden, wird gewissermaßen das Gewebe der Gesellschaft angegriffen und gelockert."

Am Ende droht der Vertrauensverlust

Das Vertrauen in Institutionen, die lange als vertrauenswürdig galten, geht allerdings kontinuierlich zurück: Dies betrifft Medien und Wissenschaft, Parteien und Polizei, Kirchen und Religionsgruppen. Die Institutionen könnten jedoch daran arbeiten, meint Arnd Brummer:

Auch für sie gehe es darum, "gemeinsam zu lernen, unterschiedliche Wahrnehmungen mitzuteilen und mögliche Irrtümer einzuräumen".


Quelle:
KNA