Moraltheologe kritisiert Widerspruchslösung bei Organspende

"Eingriff in unser medizinethisches Denken"

Um die Neuregelung eines Organspendegesetzes ist ein Streit entbrannt. Gesundheitsminister Jens Spahn will die Widerspruchslösung einführen. Ein Gesetzesentwurf ist für Ende Januar angekündigt. Zweifel an dieser Lösung bleiben aber.

 (DR)

DOMRADIO.DE: Wenn es nach Gesundheitsminister Spahn ginge, dann würde im Falle des Hirntods jeder, der nicht wiedersprochen hat, zum potenziellen Spender. Was halten Sie von dem Vorschlag, der sogenannten Widerspruchsregelung?

Professor Dr. Eberhard Schockenhoff (Professor für Moraltheologie in Freiburg, ehemaliges Mitglied des Deutschen Ethikrats): Ich glaube, dieser Vorschlag ist nicht zu Ende gedacht und er weckt Hoffnungen auf die Effizienz einer rein pragmatischen Lösung, die so nicht in Erfüllung gehen wird.

Man muss dazu zunächst etwas ausholen. Die Organspende ist in moralischer Hinsicht an verschiedene Voraussetzungen gebunden, zum Beispiel an die sichere Todesfeststellung, an die Freiwilligkeit der Spende und auch an ihre Uneigennützigkeit. Die Freiwilligkeit der Spende kann man nun nicht allein an der Tatsache ableiten, dass der Verstorbene nicht widersprochen hat. Das ist unserer ganzen Rechtsordnung fremd, dass man einen nicht eingelegten Widerspruch als Zustimmung deutet. Wir haben heute ein neues Gesetz, das regelt unter welchen Umständen ich einverstanden bin, dass etwa das Recht an meinem Bild in der Presse benutzt wird. Wenn Sie zu einer Fronleichnamsprozession gehen und Sie werden fotografiert, dann kann das nicht veröffentlicht werden, wenn Sie nicht persönlich zugestimmt haben.

Da wäre es viel plausibler, dass man sagt, jeder der dort hingeht, der stimmt indirekt konkludent zu, indem er das tut. Aber bei einem so weitreichenden Eingriff wie einer Organentnahme genügt das nicht. Das wäre ein Systembruch in unserem ganzen medizinethischen Denken, das eben zentral auf den Respekt vor der Patientenautonomie und auf das Erfordernis der informierten Einwilligung gebaut ist.

DOMRADIO.DE: Das sehen auch viele Politiker so. Zum Beispiel die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock, sie hat einen Gegenvorschlag gebracht. Ihrer Ansicht nach, sollte man jedes Mal auf dem Amt nach seiner Bereitschaft zur Organspende gefragt werden, wenn man zum Beispiel seinen Personalausweis oder Führerschein verlängert. Was halten Sie davon?

Schockenhoff: Das ist ein schon lange diskutierter Vorschlag, der nicht erst jetzt gemacht wurde. Ich halte das für eine gute Regelung, weil das ungefähr dem Modell der Erklärungslösung entspricht, auf die der Nationale Ethikrat in seiner letzten Periode noch hingewiesen hat. Das ist auch die im Augenblick bei uns geltende Rechtslage. Das heißt, die Krankenkassen machen bei ihren Versicherten in regelmäßigen Abständen eine Anfrage und die zielt auf eine Entscheidung, "Ja" oder "Nein".

Es ist auch die dritte Option, "sich noch nicht festzulegen", möglich. Diese Entscheidung wird dann dokumentiert. Man kann das an einem Führerschein machen. Man kann es aber auch genauso gut an einer elektronischen Gesundheitskarte machen. Das wäre vielleicht sogar noch naheliegender, weil die ja in der Regel auch bei einer medizinischen Behandlung vorliegt.

DOMRADIO.DE: Und es gibt Erfahrungen mit diesem Verfahren aus den USA.  

Schockenhoff: Dort hat sie sich bewährt und die Hoffnung ist natürlich, dass sich die Menschen dann auch zu einer größeren Zahl bereiterklären, Organspender zu sein. Das stützt sich darin, dass in Umfragen über 80 Prozent der deutschen Bevölkerung angibt, dass sie persönlich grundsätzlich dazu bereit wären. Allerdings gibt es dann eine Schere. Denn das führt nicht dazu, dass dann wirklich auch eine genauso hohe Zahl einen Organspenderausweis beantragt. Aber auch das ist in den letzten Jahren gestiegen, eben aufgrund dieser Erklärungslösung. Immerhin haben heute laut einer Umfrage aus dem Jahr 2018 bereits 36 Prozent aller Menschen in Deutschland einen Organspenderausweis.

DOMRADIO.DE: Hirntod ist ein ganz schwieriges Thema. Nämlich die Frage, wann ist der Mensch wirklich tot? Können Sie uns das beantworten?

Schockenhoff: Man muss bei der Frage nach dem Tod verschiedene Ebenen unterscheiden. Zunächst mal gibt es die Frage, wer stirbt, wer ist das Subjekt des Todes? Das sind weder das Gehirn noch der Körper, sondern das ist der Mensch als eine seelische Einheit und Ganzheit. Und wenn diese leibseelische Einheit irreversibel zerbrochen ist, dann kann man nicht mehr von einem lebendigen Menschen sprechen, auch dann nicht, wenn in seinem Körper noch aufgrund der künstlichen Beatmung partielle Lebensfunktionen aufrechterhalten werden.

Deshalb ist aus meiner Überzeugung der Hirntod ein sicheres Anzeichen dafür, dass der Tod des Menschen bereits eingetreten ist. Das ist ein Rückschlussverfahren. Wann das genau der Fall war, das weiß niemand. Ausschlaggebend ist die Feststellung, dass wir es jetzt mit einem Toten zu tun haben.

DOMRADIO.DE: Aber kann man immer sicher sein, dass man tot ist, wenn einem Organe entnommen werden? Das ist ja diese Horrorvorstellung, die dann vielleicht viele doch abschreckt, den Organspenderausweis auszufüllen und zu haben.

Schockenhoff: Diese Sicherheit kann bei der deutschen Regelung, der Hirntodfeststellung, jeder haben. Es kam noch nie vor, dass ein für hirntot Erklärter, bei dem der Hirntod wirklich festgestellt wurde, anschließend wieder erwachte. Was es gelegentlich gibt, ist, dass man einen Verdacht auf Hirntod hat, dann eine Hirntoddiagnostik durchführt und dabei festgestellt, dass der Hirntod doch noch nicht eingetreten ist. Aber das deutet nur darauf hin, wie ernsthaft und seriös die Hirntodfeststellung durchgeführt wird.

DOMRADIO.DE: In der katholischen Kirche gibt es sehr unterschiedliche Meinungen zu dieser Frage. Gibt es denn eine katholisch-theologische, vielleicht sogar moralische Definition dafür?

Schockenhoff: Die katholische Kirche ist ja auch eine diskussionsfreudige Glaubensgemeinschaft, deshalb gibt es zu sehr vielen Dingen unterschiedliche Meinungen. Aber es gibt auch eine Art amtliche Festlegung, etwa durch die Akademie für das Leben im Vatikan, den Päpstlichen Rat der Wissenschaft oder durch Ansprachen, die etwa Papst Benedikt XVI. an wissenschaftliche Kongresse gehalten hat. Da wurde das Hirntodkriterium immer als eine zuverlässige und zweifelsfreie Form der Todesfeststellung anerkannt.

DOMRADIO.DE: Für Ende Januar ist ein Gesetzesentwurf angekündigt. Was glauben Sie, wie wird es jetzt weitergehen?

Schockenhoff: Ich bin kein Prophet. Wahrscheinlich wird der Fraktionszwang aufgehoben. Aber so wie man aus der ersten Debattenrunde entnommen hat, ist doch eher eine Mehrheit zugunsten dieser Erklärungslösung und der Kombination mit einer entweder elektronischen Gesundheitskarte, dem Personalausweis oder etwas ähnlichem vorzustellen. Dass die Widerspruchsregelung, so wie sie Minister Spahn vorgeschlagen hat, eine Mehrheit findet, das halte ich für unwahrscheinlich. Denn sie stellt einen tiefen Eingriff in unser gesamtes medizinethisches und medizinrechtliches Denken dar.

Das Gespräch führte Martin Mölder. 


Eberhard Schockenhoff, Professor für Moraltheologie / © Harald Oppitz (KNA)
Eberhard Schockenhoff, Professor für Moraltheologie / © Harald Oppitz ( KNA )

Organspendeausweis / © Axel Heimken (dpa)
Organspendeausweis / © Axel Heimken ( dpa )
Quelle:
DR