Theologe über die Bedeutung von Großzügigkeit und Vergebung

Vergeben kann man lernen

Jeder kennt es, im Kleinen oder Großen: Zank, Zerwürfnisse, Streit. Eins kommt zum anderen, die Spirale der Differenzen wächst. Der Drang zur Vergeltung ist meist stärker als der zur Vergebung. Dabei sollte dies für Christen doch einfach sein.

 (DR)

DOMRADIO.DE: Es ist ein quälendes Gefühl, wenn man sich gestritten hat: da ist etwas, das bereinigt werden könnte. Warum ist uns die Vergebung so wichtig?

Dr. Raimund Lülsdorff (Diakon und Ökumenebeauftragter des Erzbistums Köln): Ja, es wäre schön, wäre uns die Vergebung immer so wichtig. Aber es gibt ja mindestens zwei Impulse im Menschen: Vergebung und Vergeltung. Vergeltung hat ihren Platz im gesellschaftlichen Leben, denken Sie an unsere Justiz. Ich spreche also nicht von Rache, sondern wirklich von angemessener Vergeltung. Aber sie kann auch ausufern.

DOMRADIO.DE: Schon in der Bibel ist das ein Thema, wie wird da von Vergebung geschrieben?

Lülsdorff: Aus meinem persönlichen Erleben, als ich die altnordischen Sagas gelesen habe, war ich regelrecht schockiert. Es wurde sehr nüchtern beschrieben, wie ein Vergehen mit dem Vielfachen bestraft wurde. Da hat jemand einem anderen Unrecht getan, der wiederum rächte sich, indem er ihn umbrachte. Dann kam die Großfamilie und brachte wieder die ganze Familie des Ersten um und so weiter. Das will nur eine ausufernde Gewalt beschreiben.

Dasselbe haben wir auch im Alten Testament: das berühmte Kainsmal ist ja eigentlich ein Schutzzeichen, das Gott gibt. Es ist sowohl das Erkennungszeichen des Mörders, als auch ein Schutzzeichen, das ihn vor einem gewaltsamen Tode bewahrt. Aus dem Grund, dass Kain nicht von jedem Beliebigen auf sein Verbrechen hin umgebracht wird. Es ist verboten mit einer siebenfachen Rache. Sein Nachkommen Lamech rühmt sich dann schon, 77-fach gerächt zu werden, das heißt diese Blutrache und die Vergeltung, die ufert aus. Und es ist kein Zufall, dass Jesus dann später den Petrus sagen wird: Nicht siebenfach sollst du vergeben, sondern 77-fach. Diese Vergebung baut also eigentlich einen Damm gegen eine ausufernde Vergeltung und Rache auf.

DOMRADIO.DE: Jetzt hört man eine Entschuldigung in der Regel nicht sofort oder wir selber brauchen ein bisschen, bis wir zur Vergebung bereit sind. Warum braucht es immer so eine gewisse Zeit bis wir vergeben können?

Lülsdorff: Ich denke, das ist zunächst einmal der Konflikt in uns drin. Es drängt uns ja doch erstmal zur Vergeltung, nicht zur Vergebung. Wenn man sich so ein wenig umschaut in der Verhaltensforschung, wird man beide Verhaltensmuster auch bei Völkern etwa in Südamerika oder Afrika finden, die noch nicht von unserer Kultur so "verbildet" wurden. Beides wird den Kindern regelrecht antrainiert, nicht nur die Vergebung, sondern auch die Vergeltung.

Ich denke, es dauert eine Zeit lang, bis wir das Ganze nicht nur mit dem Kopf eingesehen haben. Es ist sinnvoll, Vergeltung nicht ausufern zu lassen, sondern auch zu vergeben und auf der anderen Seite das Ganze auch gefühlsmäßig einzuholen.

DOMRADIO.DE: Was gehört denn neben dem Zeitfaktor noch dazu, dass man vergeben kann?

Lülsdorff: Ich glaube, dass gefühlsmäßig sehr stark dazu gehört, selbst einmal Vergebung erfahren zu haben. Jemand, der das nie erlebt hat, wird sich schwer tun. Ich glaube aber auch, wir Menschen sind Wesen mit Herz und Verstand – also man braucht manchmal einen Grund für diese Vergebung. Das kann das sein, was ich eben geschildert habe. Wir Christen haben aber andere Gründe. Wir haben einfach so viel Vergebung erfahren von Gott, dass auch unser Kopf, wenn wir das denn glauben, sagt, so viel Vergebung, die du erfahren hast, die musst du weitergeben.

DOMRADIO.DE: Aber es gehört trotzdem eine gewisse Großzügigkeit dazu. Heißt es, wenn man Christ ist, dass man in der Lage sein sollte schneller zu vergeben oder Entschuldigungen anzunehmen?

Lülsdorff: Ja, bestimmt. Ich denke auch diese Großzügigkeit, die Vergebung muss eingeübt werden. Wir bitten in jedem Vaterunser darum, dass uns die Schuld vergeben wird, wie wir unseren Schuldnern vergeben haben. Ich denke, wenn das eingeübt ist – und das sollte bei einem Christ der Fall sein – dann ist das möglich, ohne dass es zu einem unreflektierten, nicht überlegten Handeln wird.

Das Gespräch führte Tobias Fricke.


Diakon Dr. Raimund Lülsdorff / © Bernhard Raspels
Diakon Dr. Raimund Lülsdorff / © Bernhard Raspels
Quelle:
DR