Auf der Suche nach "altmodischen" Werten - auch im Neuen Jahr

Anstand und Verbindlichkeit scheinen plötzlich wieder "in"

Es gibt viele Auswüchse in der Gesellschaft, über die man sich prima aufregen kann. Um gegenzusteuern, empfiehlt mancher die Rückbesinnung auf angeblich altmodische Werte. Das könnte auch ein Weg ins neue Jahr sein.

Autor/in:
Leticia Witte
 (DR)

Ein Fremder bedrängt eine Frau in einem Bahnhof. Und jede Menge anderer Betroffener berichten derzeit im Internet über sexuelle Gewalt. Politiker werden von Demonstranten niedergebrüllt - oder schreien sich in Talkshows und Parlamenten gegenseitig an. In Berlin wird eine Frau eine U-Bahnhofstreppe hinabgetreten. In derselben Stadt zünden Migranten einen Obdachlosen an.

Nachrichten wie diese erschrecken und empören viele Menschen - und man kann den Eindruck gewinnen, dass es hierzulande nicht mehr weit her ist mit der Moral. Oder dem Anstand. Da kam das diesjährige Buch von Axel Hacke offenbar gerade recht: "Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen". Damit kann man getrost ins neue Jahr gehen.

Anstand

Anstand: ein Begriff, der reichlich angestaubt zu sein scheint. Aber unentbehrlich für das Miteinander ist, so der Schriftsteller und Kolumnist des "Süddeutsche Zeitung Magazins". Anstand hat für ihn ganz viel mit Respekt und einer "grundsätzlichen Solidarität" mit anderen Menschen zu tun.

Über den Zusammenhalt in der Gesellschaft machen sich so einige Leute öffentlich Gedanken. Und wie Hacke kommt der eine oder andere auf Werte zurück, die in der modernen Gesellschaft abgehakt schienen. Etwa die Verbindlichkeit, für die Maximilian Probst, Jahrgang 1977, in seinem gleichnamigen, ebenfalls in diesem Jahr erschienenen Buch als "fast ein Geschenk des Himmels" wirbt.

Verbindlichkeit als "Schmiermittel"

Der Psychologe Peter Groß sagte der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) dazu, dass die Verbindlichkeit keineswegs altmodisch, sondern enorm wichtig sei. Denn: Für ihn ist sie ein «Schmiermittel» des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ähnliches schreibt Hacke über den Anstand: Er sei eine "Art sozialer Schmierstoff, der jede beliebige Gesellschaft zum Funktionieren bringt" - sofern man Anstand als das sich Unterwerfen unter "überkommene Verhaltensvorschriften" verstehe.

Die Debatte über vermeintlich überholte Begriffe ist freilich nie ganz abgeflaut. Im März 2016 dachte etwa der dänische Pädagoge Jesper Juul in der "Welt" über Manieren nach. Auf die Frage, ob Menschen unhöflicher und der Ton rauer geworden seien, sagte Juul: "Ja, und aus meiner Sicht gibt es zwei Gründe dafür: Die meisten der 'guten alten Manieren', die moralischen und religiösen Ursprungs waren, wurden in den letzten 30 Jahren über Bord geworfen."

Umgang auf digitalen Plattformen

Sie seien "Leitlinien beim zwischenmenschlichen Umgang" gewesen - bis zur 68er-Generation. Ein anderer Grund für ein Abwenden ist aus Juuls Sicht: "Kommunikation findet heute nicht mehr von Mensch zu Mensch statt, sondern auf diversen digitalen Plattformen. Da ist nicht nur die Distanz zum Mitmenschen größer, sondern auch zu Anstand und Moral." Eben den Anstand vermisse er.

Es ist aber auch nicht so, dass es mit dem Anstand einfach wäre: Gerne wird auf den "Reichsführer SS" Heinrich Himmler verwiesen, auch Hacke macht das. Aus Sicht Himmlers konnte man auch im Angesicht der Verübung schlimmster NS-Verbrechen "anständig" bleiben - freilich nur gegenüber Angehörigen des "eigenen Blutes". So wundert es auch nicht, als der Anstand im Deutschlandfunk Kultur vor einiger Zeit als "kontaminierter Begriff" bezeichnet wurde. Darin äußerte der Bochumer evangelische Theologieprofessor Knut Berner die Ansicht, dass der Massenmord durch die Nationalsozialisten "nicht trotz, sondern wegen dieses probaten Begriffes" geschehen sei. Mit ihm sei "treffend" eine Gesinnung bezeichnet worden, die Unrecht legitimiere. "Und so funktionierte der Begriff auch. Warum sollte er inzwischen diese Funktionalität verloren haben?"

Unterschiedliche Funktionalität

Hacke weist zwar auch darauf hin, viele Menschen hätten den Anstand "zu einer jener Sekundärtugenden erklärt, mit denen man auch ein Konzentrationslager führen" könne. Dabei will der Kolumnist den Anstand aber doch ganz anders verstanden wissen: Er walte in dem Bereich, den der Philosoph Dieter Thomä das "Zwischenreich" nenne, "in dem Individuen sich miteinander arrangieren, auf einander einlassen und an einander wachsen".

Pädagoge Juul blickte in dem "Welt"-Interview optimistisch in die fernere Zukunft: "Ich bin mir sicher, dass wir neue und zivilisierte Normen finden, aber das wird noch eine Generation dauern." Im neuen Jahr könnte man schon einmal einen Anfang wagen.


Quelle:
KNA