Moraltheologe Schockenhoff zur Freilassung des Gladbecker Geiselnehmers

"Vergebung hat eine heilende Kraft"

Dieter Degowski wird nach fast 30 Jahren Haft entlassen. Der Geiselnehmer von Gladbeck soll in den nächsten Monaten freikommen. Ist das gerecht? Können die Angehörigen der Opfer vergeben? Fragen an den Moraltheologen Prof. Eberhard Schockenhoff.

Kommt frei: Dieter Degowski (dpa)
Kommt frei: Dieter Degowski / ( dpa )

domradio.de: Kann man jemandem, der ein Menschenleben ausgelöscht hat, überhaupt vergeben? Die Opfer leiden bis heute, er darf unter neuem Namen ein neues Leben starten. Ist das fair?

Prof. Schockenhoff (Priester und Professor für Moraltheologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i.Br.): Vergebung hat ja nicht unbedingt Fairness zum Ziel, sondern sie möchte dem Täter ein Weiterleben ermöglichen. Und dazu gehört eben auch, dass man die Aussicht hat, nach Verbüßung der Strafe ein Leben in Freiheit wiedererlangen zu können. Vor einigen Jahren hat das Bundesverfassungsgericht noch einmal ausdrücklich erläutert, dass es mit der Menschenwürde unvereinbar wäre, wenn man eine Freiheitsstrafe verbüßen müsste, die tatsächlich lebenslang im wörtlichen Sinn geht - und die einem niemals die Aussicht auf Freiheit lassen würde.

domradio.de: Ist es richtig, dass der Staat nun Gnade walten lässt – bei solch schlimmen Taten?

Schockenhoff: Dass es eine furchtbare Tat war, die eine besondere Verwerflichkeit zeigte und auf besonders niedere Motive schließen ließ, das wurde ja vor Gericht festgestellt. Es geht jetzt aber auch gar nicht um eine Begnadigung. Er hat seine Strafe verbüßt und die Strafprüfung wurde erfolgreich abgeschlossen. Jetzt steht ihm die Entlassung zu.

domradio.de: Vergebung ist Teil unseres Glaubens. Aber was kann man den Angehörigen der Opfer sagen? Sollen sie dem Täter vergeben?

Schockenhoff: Dass die unmittelbar Betroffenen oft nicht in der Lage sind, dem Täter zu vergeben, das wird man anerkennen müssen. Es gibt Fälle, da reicht die Fähigkeit zur Vergebung einfach nicht aus.

Aber der Staat ist auch nicht wie eine individuell betroffene Person zur Vergebung aufgefordert, er muss unterschiedliche Gesichtspunkte in ein vernünftiges Verhältnis bringen. Zum einen den Strafanspruch und das Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Man geht heute davon aus, dass nicht Vergeltung Sinn einer Strafe ist, oder den Täter Sühne leisten zu lassen, wie man das früher annahm. Es gibt eine Grundnorm der Gerechtigkeit und wenn diese erfüllt ist, dann ist auch das Strafbedürfnis des Staates erschöpft. Und dann gilt es tatsächlich darüber hinaus, auch den Blick für die Person des Straftäters zu haben.

domradio.de: Kann Vergeben denn helfen?

Schockenhoff: Ja, Vergebung hat ja auch eine heilende Kraft für die Opfer. Wenn sie vergeben können, dann befreien sie sich auch selbst von der Erinnerung an das Leid, das ihnen zugefügt wurde. Und dann finden sie auch zu einem produktiven Umgang mit dem, was sie erlitten haben. Und wenn die Opfer tatsächlich dem Täter vergeben können, dann hat das für beide Seiten eine heilende Kraft: Die Opfer können sich von Grimm, Wut und Hass befreien und der Täter kann besser mit seiner Schuld leben.

Das Interview führte Silvia Ochlast.


Eberhard Schockenhoff, Professor für Moraltheologie / © Harald Oppitz (KNA)
Eberhard Schockenhoff, Professor für Moraltheologie / © Harald Oppitz ( KNA )