Dass der Göttinger Transplantationsmediziner in den Jahren 2010 und 2011 moralisch verwerflich gehandelt hat, darüber ließen die Richter nie einen Zweifel. Ob sein Verhalten am Transplantationszentrum der Uni Göttingen in den Jahren 2010 und 2011 aber auch strafrechtliche Konsequenzen hat, darüber musste am Mittwoch der Bundesgerichtshof entscheiden. Die Leipziger Richter sprachen den Mann frei - wie zuvor schon das Landgericht Göttingen.
Komplizierte Rechtsfragen
Es ging um komplizierte Rechtsfragen: Die Staatsanwaltschaft warf dem Mediziner versuchten Totschlag vor und forderte acht Jahre Gefängnis. Denn unbestritten hatte der frühere Leiter der Transplantationsmedizin medizinische Daten manipuliert und dafür gesorgt, dass ein Teil seiner Patienten auf der Warteliste nach oben rutschte und bevorzugt Spenderlebern erhielt.
Konkret hatte der Mediziner in sechs Fällen falsche Angaben über angebliche Therapien seiner Patienten gemacht. In zwei Fällen hatte er die Aufnahme von alkoholkranken Patienten in die Warteliste bewirkt, obwohl sie die von der Bundesärztekammer geforderte Alkoholabstinenz von sechs Monaten nicht eingehalten hatten. Beide Patienten hätten aber nach Darstellung des Landgerichts die vorgeschriebene Abstinenzzeit ohne Transplantation nicht überlebt.
Im Mai 2015 sprach das Landgericht Göttingen den Mediziner nach 20 Monaten Prozessdauer trotz der Verfehlungen frei. Es sei nicht erwiesen, dass die falschen Angaben andere Patienten das Leben gekostet hätten. Darüber hinaus seien die Verstöße des damals 47-jährigen Mediziners gegen Richtlinien der Bundesärztekammer zum Tatzeitpunkt nicht strafbar gewesen - ein Freispruch zweiter Klasse also. Mit Blick auf drei von dem Arzt durchgeführten Transplantationen mit Todesfolge erklärte das Gericht, in allen drei Fällen sei die Transplantation eine vertretbare Behandlung gewesen.
Folgen für Transplantationsmedizin
Dieses Urteil bestätigten die Leipziger Richter jetzt in letzter Instanz. Dem "im Transplantationswesen versierten" Angeklagten könne nicht nachgewiesen werden, dass er den Tod der durch die Manipulationen benachteiligten Menschen oder eine Verschlechterung ihres Zustandes bewusst einkalkuliert habe, hieß es.
Über den individuellen Fall hinaus könnte das Urteil Folgen für die Transplantationsmedizin haben. Wie die Göttinger äußerten auch die Leipziger Richter Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Richtlinien der Bundesärztekammer zur Verteilung der Organe. Denn der Vorsitzende Richter am Landgericht Göttingen hatte in seinem Urteil betont, er halte es grundsätzlich für verfassungswidrig, dass Alkoholikern pauschal lebensrettende Organe verwehrt blieben. Auch die Leipziger Richter erklärten, es gebe keine gesetzliche Grundlage für die Vorgabe, dass Alkoholkranke sechs Monate "trocken" gewesen sein müssen, um auf die Warteliste für eine Leber zu kommen.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte deshalb am Mittwoch Reformen. Es handele sich um einen "Weckruf" für den Bundestag und die Bundesregierung, erklärte Vorstand Eugen Brysch. Entscheidungen über Leben und Tod dürften nicht von Institutionen gefällt werden, die nicht demokratisch legitimiert seien.
Sinkendes Vertrauen in Organspende
Unabhängig vom Urteil hat der Skandal an mehreren deutschen Transplantationszentren in den vergangenen Jahren gravierende Folgen für Schwerstkranke in Deutschland gehabt. Seit die Vorwürfe im Sommer 2012 bekannt wurden, sank das Vertrauen der Deutschen in die Transplantationsmedizin: Die Zahl der Organspender ging kontinuierlich zurück und sank 2016 auf einen Tiefpunkt.
Politik und Ärzteorganisationen reagierten mit einem Bündel von Maßnahmen, um das Vertrauen wieder herzustellen. So wurde das "Mehr-Augen-Prinzip" eingeführt: Seitdem entscheidet eine interdisziplinär besetzte Transplantationskonferenz am jeweiligen Behandlungszentrum darüber, ob ein Patient auf die Warteliste aufgenommen wird. Seit 2013 machen sich zudem Ärzte, die Manipulationen an Wartelisten vornehmen, um Patienten "unberechtigt zu bevorzugen", strafbar. Das vom Bundestag beschlossene Gesetz sieht eine "Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder eine Geldstrafe" vor.