Vor 75 Jahren stoppte Hitler offiziell das Tötungsprogramm an Behinderten

"Geheime Reichssache" auf der Alb

Die Kirchen kamen dem NS-Tötungsprogramm T4 an Behinderten und Kranken früh auf die Spur. Nach beharrlichen Protesten gaben die Nazis T4 am 24. August 1941 zwar auf, aber die "Euthanasiemorde" gingen weiter.

Autor/in:
Dirk Baas
 (DR)

Die Nationalsozialisten ermordeten mindestens 200.000 behinderte Menschen. Deckname der von Berlin aus gesteuerten "geheimen Reichssache": T4. Die Kirchen kamen den Verbrechen zwar früh auf die Spur, schwiegen aber lange. Dann deckte der Pfarrer Paul Gerhard Braune das systematische Töten auf. Er und andere Kirchenmänner wie der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen prangerten das Todesprogramm öffentlich an. Adolf Hitler stoppte die Aktion daraufhin vor 75 Jahren am 24. August 1941 - doch inoffiziell ging das Morden weiter.

Braune schickte am 9. Juli 1940 seine "Denkschrift gegen die Krankenmorde" an die Reichskanzlei und machte so das Euthanasieprogramm publik. Die Folge: Der Theologe kam in "Schutzhaft": Er habe "staatliche Maßnahmen in unverantwortlicher Weise sabotiert", lautete der Vorwurf.

Kirchen schwiegen überwiegend

Die Kirchen hatten innenpolitisch ganz überwiegend ihren Frieden mit dem NS-Regime gemacht, äußerten sich deshalb auch lange nicht zur reichsweit angelaufenen Euthanasie, über die Details längst durchgesickert waren. "Kein einziger kirchlicher Funktionsträger ist öffentlich gegen den Massenmord aufgetreten. Einzelne Predigten in Kirchen oder Gemeindekreisen stellten keine Öffentlichkeit her", sagt Kirchenhistoriker Jochen-Christoph Kaiser.

Wenige wagemutige Personen wie Braune oder der evangelische Württemberger Landesbischof Theophil Wurm versuchten dennoch, das Schweigen zu durchbrechen. "Die Krankenmordaktionen in ihrer konkreten Durchführung blieben immer im Dunkel der offiziellen NS-Politik, wenngleich manches durchsickerte, aber nur 'hinter vorgehaltener Hand' weitergesagt wurde", betont Kaiser.

Persönlich konfrontiert wurde Braune, der die Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal bei Berlin leitete, mit der Aktion T4 im Mai 1940: Aus dem Mädchenheim "Gottesschutz" in Erkner, das zu seiner Einrichtung gehörte, sollten fünfundzwanzig "schwachsinnige" Kinder und "anfallkranke" junge Frauen abgeholt werden. Begründet wurde der Transport mit militärischen Planungen. Ein grauer Bus wartete bereits vor dem Haus. Doch Braune und die leitende Diakonisse Elisabeth Schwarzkopf gaben die Menschen nicht heraus.

Morden begann auf der Schwäbischen Alb

Begonnen hatte das geheime Morden im Südwesten des Reiches in Grafeneck bei Reutlingen auf der Schwäbischen Alb. Nachdem Adolf Hitler T4, benannt nach der Anschrift der Planungszentrale an der Tiergartengartenstraße 4 in Berlin, angeordnet hatte, wurde das von der Samariterstiftung betriebene Heim beschlagnahmt. Es diente fortan wie fünf weitere Anstalten der Ermordung Kranker und Behinderter.

Deren Angehörige wurden stets mit gleichlautenden Nachrichten über den Tod ihrer Angehörigen informiert: Die enthielten neben der fingierten Todesursache den Hinweis, wegen Seuchengefahr hätte der Leichnam sogleich eingeäschert werden müssen.

Von diesen merkwürdigen Vorgängen erhielt Braune Kenntnis - und ging den Dingen seit März 1940 auf den Grund. Dabei nutzte er als Vizepräsident des Zentralausschusses der Evangelischen Inneren Mission, dem Vorgänger der heutigen Diakonie, seine reichsweiten Kontakte. Schnell fand er heraus, dass ein systematisches Tötungsprogramm angelaufen war.

Seine Recherchen flossen in eine Denkschrift ein. Auf deren Übergabe folgten viele diskrete Gespräche mit Parteigrößen, geführt in der irrigen Annahme, "durch Appelle an Moral und Vernunft der Staatsdiener eine Beendigung der Euthanasie zu erwirken", schreibt Jan Cantow, Historiker und Archivar der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal.

Braune nannte drei Tötungsanstalten: Grafeneck, Brandenburg a. d. Havel und Hartheim. Er veröffentlichte die Namen, Adressen und geschätzten Todeszeitpunkte von mehr als 25 Patienten. Zudem hatte er herausgefunden, dass 125 Patienten aus drei Heimen nach Transporten verschwunden waren. Zwar konnte der Theologe die Zahl der bereits Getöteten nicht exakt benennen, kam aber zu dem Fazit: "Es handelt sich hier also um ein bewusstes, planmäßiges Vorgehen zur Ausmerzung aller derer, die geisteskrank oder sonst gemeinschaftsunfähig sind."

Mantel des Schweigens zerrissen

Das Regime schlug am 12. August 1940 zurück: Die Gestapo durchsuchte Braunes Haus, beschlagnahmte Akten und nahmen ihn mit. Zwar wurde er hinter Gittern ordentlich behandelt, doch kam der Theologe erst am 31. Oktober 1940 wieder frei. Zuvor musste er eine Erklärung unterzeichnen, "nichts mehr gegen den Staat und die Partei" zu unternehmen.

Doch der Mantel des Schweigens war da längst zerrissen: Am 3. August 1941 hatte der streitbare katholische Bischof in Münster, Clemens August Graf von Galen (1878- 1946), in einer vielbeachteten Predigt in der Lambertikirche, die hektographiert im Reich kursierte, das Mordprogramm attackiert: "Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den 'unproduktiven' Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden. (...) Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher."

Ob die kirchlichen Proteste wirklich zum offiziellen Stopp der Tötungen am 24. August 1941 führten, ist in der Forschung umstritten. "Die zahlreichen vertraulichen Eingaben kirchlicher Würdenträger an die nationalsozialistische Regierung zeugen zwar von persönlicher Integrität, blieben aber völlig wirkungslos , urteilt der Historiker Hans-Walter Schmuhl. Dennoch wurden die Tötungseinrichtungen entweder geschlossen oder umfunktioniert. Das Morden geschah fortan dezentral, dauerte aber bis Kriegsende an. Ingo Loose, in Berlin tätiger Historiker, schreibt, dass "auch offener Protest wie im Falle von Galens den Ablauf der Euthanasiemorde allenfalls zu verändern, nicht aber aufzuhalten vermochte".


Quelle:
epd