Lütz: Depressive viel seltener straffällig als Gesunde

"Es ist kein Amoklauf gewesen"

Viel wird über eine mögliche Depression des Co-Piloten des abgestürzten Germanwings-Flugzeugs spekuliert. Dr. Manfred Lütz, katholischer Theologe und Chefarzt des Kölner Alexianer-Krankenhauses, warnt davor, Depressive zu stigmatisieren.

Depressionen betreffen viele Menschen (dpa)
Depressionen betreffen viele Menschen / ( dpa )

domradio.de: Wenn man die Berichterstattung der letzten Tage verfolgt, konnte man bei einigen Sendungen und Artikeln den Eindruck gewinnen, dass Depressive generell gemeingefährlich sind - was sagen Sie als Psychiater dazu?

Dr. Manfred Lütz (Psychiater und Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses): Das Gegenteil ist der Fall. Depressive werden in der Regel viel weniger häufiger straffällig als gesunde Menschen. Depressive haben auch keine Aggressionen gegen andere, sondern höchstens gegen sich selbst.  

Abgesehen davon ist es Unsinn, zu sagen, dass man Depressionen nicht behandeln könne. Wir haben in Deutschland in vielen Städten Bündnisse gegen Depressionen, um die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, dass Depressionen eine sehr gut behandelbare Erkrankung sind.  

Viele Menschen sind unbehandelt depressiv, sie wissen gar nicht, dass eine Behandlung möglich ist. Sie denken einfach, dass sie traurig seien und das aushalten müssten. Da könnte man soviel Gutes tun, wenn man eine breite Öffentlichkeit aufklärt und dadurch niemand Angst bekommen muss, wenn er sagt, dass er depressiv ist. Depressive Menschen sind weniger gefährlich als Sie und ich.

domradio.de: Heißt das im Umkehrschluss, dass ein Flugverbot für depressive Piloten übertrieben wäre?

Lütz: Das wäre völliger Unsinn und richtig gefährlich. Es würde nämlich bedeuten, dass Menschen, die Pilot werden wollen, ihre Symptome - wenn sie welche haben - verschleiern. Ein Drittel der Deutschen sind irgendwann im Leben psychisch krank. Wenn Sie alle diese Menschen von verantwortungsvollen Tätigkeiten ausschließen wollen - und die anderen zwei Drittel haben ja auch mal Liebeskummer - dann können Sie eigentlich niemanden mehr dahin setzen. 

domradio.de: Wie gut oder schlecht kann man Depressionen überhaupt diagnostizieren, vor allem nachträglich nach einem Suizid? Wie gut kann man im Nachhinein sagen, dass der Co-Pilot daran gelitten hat oder eben nicht?

Lütz: Es ist in diesem Fall kein Amoklauf gewesen. Ein Amokläufer bereitet die Tat vor, er plant sie, er hat ein Hochgefühl dabei. Er sieht die Angst in den Augen der Menschen, die er erschießt. Das gehört alles zum Amoklauf dazu. Diese Aggressivität gegen andere ist hier zu keinem Zeitpunkt bemerkbar gewesen. Der Co-Pilot hat das Ereignis nicht vorbereitet. Es war ja nicht planbar, dass der Pilot das Cockpit verlässt. Der Co-Pilot hat sich offensichtlich in dem Moment, als er bemerkt hat, dass sich die Tür schließt, psychologisch alleine gefühlt. Er hatte offenbar in letzter Zeit viele Belastungen und ich vermute, dass er in dem Moment den Entschluss gefasst hat, es zu beenden. 

Er hatte einen Tunnelblick, glaube ich. Er hat nur gesehen, dass er jetzt sein Leben beenden kann. Die Menschen hinter sich hat er ausgeblendet. Ich glaube nicht, dass er ein absichtsvoller Massenmörder ist. Ich glaube, psychologisch ist das so ähnlich wie bei Geisterfahrern, die sich umbringen und dabei den Tod anderer Menschen in Kauf nehmen, aber das gar nicht sehen wollen und ausblenden.

Das Interview führte Mathias Peter.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Weder domradio.de noch das Erzbistum Köln machen sich Äußerungen der Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen zu eigen.


Dr. Manfred Lütz (dpa)
Dr. Manfred Lütz / ( dpa )
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