Mertes warnt vor Schlussstrich bei Missbrauchsaufarbeitung

"Schule ist sehr viel sicherer geworden"

Bilanz, nicht Schlussstrich: Der Jesuit Klaus Mertes spricht im Interview über fünf Jahre Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche. Und er hofft auf weitere Reformen der Kirche, um Machtmissbrauch wirksam zu bekämpfen.

Türme des Klosters Ettal (dpa)
Türme des Klosters Ettal / ( dpa )

KNA: Pater Mertes, hätten Sie sich jemals vorstellen können, mit Ihrem Brief vor fünf Jahren eine solche Lawine auszulösen? 

Mertes: Nein, aber das heißt nicht, dass ich den Schritt bereue. Im Gegenteil. Mir war von Anfang an klar, dass es allein bei dem einen Pater in Berlin mindestens 100 Opfer geben muss. Ich musste mich daher an die potenziell betroffenen Jahrgänge richten, um klar zu machen: Damals ist Euch nicht zugehört worden, heute aber bin ich dazu bereit.

KNA: Warum hat es so lange gedauert, bis es zu einer Aufarbeitung der Missbrauchstaten kam?

Mertes: Da kommen sicher mehrere Faktoren zusammen. Einige Opfer hatten ja schon vorher versucht, Gehör zu finden, waren damit aber gescheitert. Einzelne Zeitungsberichte über andere Missbräuche, etwa in der Odenwaldschule, sind wirkungslos verhallt. 2010 war neu, dass erstmals Männer gesprochen haben. Dann, dass der Missbrauch in einer Institution stattfand, die in der Mitte der Hauptstadt nahe dem Brandenburger Tor steht und eine hohe Prominenz besitzt. Auch, dass es eine katholische Institution war und damit sofort die katholische Kirche als ganze im Mittelpunkt stand, die größte und älteste Institution der Welt. Schließlich spielt eine Rolle, dass nicht nur Opfer gesprochen haben, sondern schon gleich über eine Reaktion der Institution berichtet werden konnte.

KNA: Brauchte die deutsche Gesellschaft Zeit, bis sie überhaupt bereit war, eine solche Information zur Kenntnis zu nehmen?

Mertes: Dass Opfer kein Gehör finden, ist sicher ein gesellschaftliches Thema. Offenbar hat das erst reifen müssen. Die Vorarbeiten der Frauenbewegung sind hier ganz wichtig; dass Frauen schon vor 30 Jahren sexualisierte Gewalt gegen größte Widerstände öffentlich machten.

KNA: Sehr schnell ging es dann aber nicht nur um die betroffene Schule, sondern um Kirche als ganze?

Mertes: Ja, denn es wurde schnell deutlich, dass die nun bekanntwerdenden Missbrauchstaten ganz grundlegende Fragen aufwarfen, die auch an die Substanz des kirchlichen Selbstverständnisses gingen.

KNA: Gab es also spezifische kirchliche Bedingungen, die Missbrauch erst ermöglicht oder begünstigt haben?

Mertes: Zumindest steht die Frage im Raum, ob die Ordnung der zentralisierten und überhöhten Machtstrukturen in der Kirche missbrauchsbegünstigend ist. Zudem gibt es die Tendenz, jede Kritik an Priestern letztlich als Illoyalität zu deuten. Dadurch wurden Opfer immer wieder ins Schweigen hineingedrückt.

KNA: Sehen Sie auch Zusammenhänge mit der Art und Weise, wie Kirche ihre Sexualmoral vertritt oder vertreten hat?

Mertes: Ja, das Aufbrechen der jahrelangen Sprachlosigkeit im Bereich der Sexualität ist aus meiner Sicht das zweite ganz große Thema der Missbrauchsaufarbeitung. Zwar wird in der Kirche viel über Sexualität gesprochen, aber dass Menschen von sich in der ersten Person sprechen, von ihren eigenen Erfahrungen, das war und ist bis heute schwer. Wie viele Menschen dürfen beispielsweise nicht sagen, wie ihre wahren Verhaltensweisen und Lebensverhältnisse in diesem Bereich sind. Beginnend mit den gut katholischen Eltern, die künstlich verhüten und das ihren Kindern verschweigen.

KNA: Betrifft das auch den aktuell viel diskutierten Umgang mit Wiederverheirateten?

Mertes: Diese Fragen hängen mit dran. Da müssen ja auch Lebensverhältnisse vertuscht werden, zum Beispiel, damit man seinen Arbeitsplatz behält.

KNA: Ändert sich die Diskussion nun durch Papst Franziskus?

Mertes: Der Papst spielt eine sehr wichtige Rolle. Er weiß sehr genau, dass ein autoritäres System nicht autoritär verändert werden kann. Und deshalb macht er das, was wirklich verändert: Er öffnet die Debatte und lässt erstmals offene Diskussionen zu. Das ist ein großer Tabubruch, der auch daran deutlich wird, wie stark die Kräfte sind, die dagegen opponieren und nun richtig Angst bekommen, dass ihre Bastionen geschleift werden, hinter denen sie sich selbst verstecken.

KNA: Sie selbst waren massiven Anfeindungen ausgesetzt?

Mertes: Im Kern ging es fast immer um den Vorwurf der Nestbeschmutzung. Hinzu kamen Verleumdungen. Ich erhalte noch immer Hassmails. Aber ich habe mich da nie besonders mit befasst.

KNA: Und mancherorts waren Sie kein gern gesehener Gast? 

Mertes: Tatsächlich hat es Auftrittsverbote gegeben. Pfarrer, die mich zunächst für einen Vortrag eingeladen hatten, mussten mich dann unter fadenscheinigen Begründungen wieder ausladen.

KNA: Wie ist das heute, fünf Jahre danach?

Mertes: Ich nehme weiterhin gerne Einladungen an.

KNA: Das prominenteste Gesicht der kirchenoffiziellen Aufarbeitung ist sicher der Trierer Bischof Ackermann. Wie bewerten Sie seine Arbeit als Beauftrager der Bischofskonferenz?

Mertes: Ich schätze ihn persönlich sehr. Bischof Ackermann ist derjenige Bischof, der für viele seiner Amtsbrüder die Kohlen aus dem Feuer geholt hat. Ich habe hohen Respekt vor seiner Leistung.

KNA: Woran zeigt sich diese?

Mertes: Er war und ist das Gesicht, das sich der öffentlichen Debatte stellt. Ganz viele Bischöfe stecken den Kopf in den Sand und wollen überhaupt nicht mehr darüber sprechen. Bischof Ackermann ist derjenige, der immer wieder ganz klar sagt, das Thema ist noch lange nicht zu Ende, damit keine Schlussstrichstimmung durchgreift. Auch in der Präventionsarbeit kommt sehr viel Unterstützung von ihm.

KNA: Zahlreiche kirchliche Akteure, in Gemeinden, Kindergärten, Schulen und Verbänden haben seit 2010 große Anstrengungen in Sachen Prävention unternommen. Sind sexuelle Übergriffe, beispielsweise in einer katholischen Schule, heute ausgeschlossen?

Mertes: Unmöglich ist Missbrauch leider nie. Täter finden immer Strategien. Ich bin aber sicher, dass Täter sich heute eher ungern auf unsere Schulen wagen würden. Aber mir ist wichtig, dass das Thema Prävention in allen Schulen weiter angepackt wird. Und nicht nur im Kolleg St. Blasien oder in der Odenwaldschule. Insgesamt ist Schule seit 2010 aber sehr viel sicherer geworden.

KNA: Auf welche weiteren Schritte hoffen Sie heute?

Mertes: Mit Blick auf die gesamte Kirche wäre ich froh, wenn es gelänge, die Macht zu dezentralisieren. Und das fängt bei der Spitze an, der Fisch stinkt vom Kopf her. Ein erster Schritt wäre es, die Ernennungsverfahren für Bischöfe zu verändern und dabei mehr Beteiligung zu ermöglichen. Weil es dabei ja genau um die Frage geht, wie Macht in der Kirche organisiert wird. Die katastrophalen Formen von Machtmissbrauch, die nach 2010 sichtbar geworden sind und zum Teil auch weitergegangen sind und weitergehen, bis hin zum Fall Limburg, sind nur vor dem Hintergrund völlig intransparenter Verfahren zu verstehen. Die männerbündische Struktur des Klerus spielt dabei auch eine wichtige Rolle - das Wir-Gefühl unter Klerikern, das sich nach außen abschottet. Da ist der strategische Punkt, an dem angesetzt werden muss.

Das Interview führte Volker Hasenauer.


Quelle:
KNA