EKD-Vizepräses Beckstein fordert Rückkehr zu seriösem Wirtschaften

"Im Mittelpunkt hat der Mensch zu stehen"

Angesichts der Wirtschaftskrise fordert der Vizepräses der Evangelischen Kirche in Deutschland, Günther Beckstein, zur Idee des "ehrbaren Kaufmanns" zurückzukehren. Im Interview macht er mangelndes Wertebewusstsein für die Krise mitverantwortlich.

 (DR)

KNA: Herr Beckstein, für die gegenwärtige Wirtschaftskrise wird auch mangelndes Wertebewusstsein der Wirtschaft verantwortlich gemacht. Kann Religion Abhilfe schaffen?

Beckstein: Es ist offensichtlich, dass die Wirtschaftskrise mit darauf zurückzuführen ist, dass die Finanzwelt durch ungebändigte Spekulation zunächst versagt und dann jedes Vertrauen verloren hat. Mangelndes Vertrauen hat zu tun mit übertriebener Spekulation und damit mit dem Verlust von Grundwerten eines seriösen Wirtschaftens. Religion, und zwar sowohl islamische als auch die christliche Religion, macht aber deutlich, dass im Mittelpunkt der Wirtschaft nicht die Rendite, sondern der Mensch zu stehen hat. Damit sind Schranken vorgegeben, die einzuhalten uns vor manchem bewahrt hätte, was wir erlebt haben.

KNA: Kommt Religion dieser Aufgabe nach?

Beckstein: Die Muslime sagen selbstbewusst, das Zinsverbot im Koran halte sie von übertriebenen Spekulationen ab. Ich habe da gewisse Fragezeichen. In Dubai scheint mir die Wirtschaft nicht anders als in Manhattan. Im Christentum sind ganz offensichtlich die hehren Werte nicht umgesetzt worden. Generell wird von der Politik gegenwärtig versucht, durch stärkere Regulierung die Zügel zu straffen. Allerdings sind in einer globalisierten Welt immer Schlupflöcher zu finden. Deshalb bin ich in der Tat überzeugt, dass es entscheidend ist, wieder auf grundsätzliche ethische Fragestellungen zurückzukommen und Wert nicht nur als etwas Finanzielles anzusehen, sondern als Grundwert, der sich auf eine metaphysische - für uns Christen auf eine religiöse - Basis stellt. Ich sehe mit großem Interesse, dass das im großen Umfang in der Wirtschaft ähnlich gesehen wird. Das Thema Werte hat im Moment große Konjunktur.

KNA: Wie muss ein solches christliches Wirtschaftssystem konkret aussehen?

Beckstein: Thomas Mann sagt in seinem Roman „Die Buddenbrooks“ bei der Übergabe des Geschäfts vom alten Kaufmann auf seinen Sohn folgendes: Mein Sohn, sei mit Begeisterung bei den Geschäften des Tags, aber mach nur solche, dass wir des Nachts mit gutem Gewissen schlafen können. Die Grundwerte der Seriosität, der Ehrbarkeit und des Vertrauens sind die richtigen Grundlagen für das Zusammenleben, insbesondere der Wirtschaft.

KNA: Ist es nicht inzwischen zu spät für ein Umdenken?

Beckstein: Dass die Wirtschaft in eine andere Richtung gegangen ist und sich eine blutige Nase geholt hat, zeigen die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und folgende. Gerade deswegen herrscht im Bereich der Wirtschaft ein großes Umdenken. In weiten Bereichen, und zwar von der Vorstandsebene bis zum Außendienstler, spielt Wirtschaftsethik eine große Rolle. Ich habe den Eindruck, dass man aus den Fehlern der vergangenen Jahre lernt und sich bemüht, wieder zu einem dringend benötigten seriösen Wirtschaften zurückzukehren.

KNA: Und die Grenzen dieses auf alten Kaufmannswerten basierenden Systems in der heutigen Welt?

Beckstein: Zunächst gilt, dass die Grundsätze des ehrbaren Kaufmanns im 19. Jahrhundert andere sind als in einer globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts. Etwa die Frage der Begrenztheit der Ressourcen oder das Wissen, dass nicht sieben Milliarden Menschen unsere Lebensweise haben können: Dies muss neu bedacht werden und stellt uns vor große Herausforderungen, weil es auch bei uns Umdenken in gewissem Umfang verlangt. Dazu kommt, dass gerade in einer globalen Welt der Wettbewerb extrem zugenommen hat und der Unterschied zwischen großen Gewinnen und existenziellen Verlusten oft nur gering ist. Das darf aber nicht dazu führen, durch unanständiges Verhalten Wettbewerbsvorteile zu suchen, denn diese werden immer nur kurzfristig sein.

KNA: Was darf Wirtschaft von Kirche erwarten?

Beckstein: Die Kirche wird der Wirtschaft nicht sagen können, wie man seriös hohe Gewinne erzielen kann. Das ist weder ihre Befähigung noch ihre Aufgabe. Die Kirche kann Hilfestellung geben, Grundwerte auf das 21. Jahrhundert übersetzen. Kirche muss aber auch auf die unterschiedlichen Teile der Welt schauen. Fragen der Verteilung zwischen Erster und Dritter Welt, zwischen Arm und Reich, das sind Aufgaben der Kirche, sowie - in besonderer Weise - die Schärfung des Gewissens der Handelnden, vom CEO bis zum Arbeitnehmer.

KNA: Also haben in der immer weniger christlichen Welt christliche Werte dennoch ihren Platz?

Beckstein: Aus meiner Sicht: Das Überraschende ist, dass sehr viele Menschen, die sich nicht als gläubige Christen bezeichnen, sehr viel von christlichen Grundwerten halten. Zudem sind diese christlichen Grundwerte in von der Aufklärung und dem Humanismus geprägten Weise Grundlage der deutschen Verfassung und in ähnlicher Form der europäischen Grundordnung wie auch der Vereinten Nationen geworden. Das heißt, daraus ergeben sich allgemeine ethische Grundwerte, die nicht nur mit unmittelbaren christlichem Glauben zu begründen sind, sondern ein hohes Maß an Allgemeingültigkeit haben.

Das Interview führte Andrea Krogmann.