DOMRADIO.DE-Chefredakteur nimmt Einblick in WSW-Gutachten

"Eine skandalöse Chronik"

Seit Donnerstag gibt es einen Einblick in das lange zurückgehaltene Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl. DOMRADIO.DE-Chefredakteur Ingo Brüggenjürgen hatte einen Termin und dabei 90 Minuten Zeit für die 510 Seiten.

Ein neues Rechtsgutachten wurde erstellt / © smolaw (shutterstock)
Ein neues Rechtsgutachten wurde erstellt / © smolaw ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Du musstest alles vorher abgeben, sogar Dein Handy?

Ingo Brüggenjürgen (Chefredakteur DOMRADIO.DE): Alles. Sogar die Uhr. Denn auch in den modernen Uhren gibt es ja Kameras. Also man ist sich ein bisschen vorgekommen wie früher, wenn man eine Klausur schreiben musste. Alles abgeben, nur einen Stift und Papier durfte man haben. 90 Minuten für diese wahnsinnige Anzahl von Seiten. Keine leichte Aufgabe.

DOMRADIO.DE: Aber ohne Uhr hattest du dann auch die Zeit nicht im Blick.

Brüggenjürgen: Das wurde immer schön angesagt. Eine Stunde ist rum, noch eine halbe Stunde, wie bei der Klausur.

DOMRADIO.DE: Was hast du in den 90 Minuten gelesen? Und vor allen Dingen: Was darfst du davon erzählen?

Brüggenjürgen: In der Kürze der Zeit konnte ich das feststellen, was wir schon beim Gercke-Gutachten gehört haben. Erschütternd insofern, dass Führungsverantwortliche, namentlich Kardinal Meisner und der Vorgänger Höffner, über Jahrzehnte - muss man ja sagen - versagt haben.

Das ist eine skandalöse Chronik. Da sind wirklich viele Dinge passiert, die besser nicht passiert wären. Die Verbrechen wurden teilweise nicht aufgeklärt, wurden bis 2010 überhaupt nicht der Staatsanwaltschaft gemeldet. Ab da auch nur zögerlich, wie es in dem Gutachten heißt.

Also doch eine ganze Reihe von Dingen, wo man sich verwundert die Augen reibt und denkt: Mein Gott, das darf doch alles nicht wahr sein.

DOMRADIO.DE: Welche Unterschiede gibt es zum Gercke-Gutachten?

Brüggenjürgen: Ich habe ja auch versucht herauszufinden, warum man es vielleicht nicht veröffentlichen konnte, weil man als Journalist versucht, solche Punkte ausfindig zu machen. Mir ist das nicht so klar geworden. Bei methodischen, gutachterlichen und persönlichkeitsrechtlichen Dingen bin ich nicht der Experte.

Als normaler Journalist, so wie ich dieses Gutachten quergelesen habe, verdient es eine Veröffentlichung. Da waren viele Dinge drin, die sicherlich bei der Aufarbeitung des Missbrauchs hilfreich sind. Da wurden ganz konkrete Maßnahmen genannt.

Das waren größtenteils auch Maßnahmen, die sich mit dem Gercke-Gutachten deckten, z.B. die katastrophale Aktenführung, dass man da nachbessern müsste oder z.B. das Zuständigkeitswirrwarr, die Abläufe. Keiner wusste, was die rechte und linke Hand macht. Teilweise wurde nur ad hoc entschieden.

Also eine ganze Reihe von Dingen und auch ganz viele konkrete Verbesserungsvorschläge, z.B. auch die Tatsache, dass man dort ganz konkret lesen kann, unter Punkt 11 ganz am Ende, dass Frauen viel stärker in kirchlichen Leitungspositionen einbezogen werden müssen, um dieses männerbündnerische Machtgehabe einzugrenzen.

Das sind konkrete Handlungsanweisungen. Und der Erzbischof von Köln hat ja gleich nach seinem Amtsantritt deutlich gemacht, dass er die Frauen in Führungspositionen nicht nur will, sondern auch eingesetzt hat.

DOMRADIO.DE: Aber was hat den Kölner Kardinal an diesem Gutachten gestört?

Brüggenjürgen: Das weiß ich nicht. Das müssen wir den Kardinal fragen. Ich habe das nicht so rausgefunden. Er hat ja gesagt, er hat selbst bis jetzt noch gar keinen Satz gelesen. Ich würde ihm dann einfach empfehlen, dieses Gutachten zu lesen. Da sind ganz wesentliche Punkte drin und der Kölner Erzbischof wird auch entlastet.

Da steht zum Beispiel drin, dass er anders als seine Vorgänger ein Signal gesetzt hat, indem er mit den Geschädigten - man spricht dort nicht von Opfern, sondern von Geschädigten - wirklich gesprochen hat, wenn die das gewünscht haben. Also ein deutliches Signal auch in seinen ganzen Apparat hinein, in das Erzbistum von Köln.

Die Blickrichtung ändert sich. Wir dürfen das Problem nicht mehr aus Sicht der Kleriker, aus Sicht zum Schutz der Kirche ansehen, sondern wir müssen die Opferperspektive einnehmen.

DOMRADIO.DE: Es war immer von methodischen Mängeln die Rede. Hast du eine Ahnung, was damit gemeint sein könnte?

Brüggenjürgen: Ich weiß es ehrlich nicht. Da bin ich auch kein Experte. Das überlasse ich den Experten. Das, was ich als Journalist jetzt in der Kürze der Zeit gesehen habe, waren viele Dinge, wo ich sage, dass die, wo es auch gar nicht um Personen geht, ins Netz gestellt werden sollen. Dann kann sich jeder ein Bild machen.

DOMRADIO.DE: Was ist für dich jetzt die größte Erkenntnis nach diesen 90 Minuten Lektüre?

Brüggenjürgen: Ich arbeite ja nun auch schon über 30 Jahre im Bistum. Ich kenne teilweise die Verantwortungsträger. Ich habe eng mit Kardinal Meisner zusammengearbeitet. Der war für mich immer ein bisschen eine Vaterfigur. Das ist schon erschreckend, wenn man das sieht.

Und ich habe ihn ja selbst mehrfach, auch als diese Fälle dann Anfang 2000 bis 2010 auftauchten, öfter in Gesprächen gefragt. Und er hat immer gesagt, dass da nichts dran sei. Bei uns gibt es das nicht. Und jetzt kann man sich in den Akten genau vom Gegenteil überzeugen. Das ist nicht so einfach.

Das Gespräch führte Dagmar Peters.


Ingo Brüggenjürgen (DR)
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