Bonner Stadtdechant warnt vor "Relevanzverlust der Religionen"

Sprachlosigkeit überwinden

Haben die Religionen in der Corona-Krise an Relevanz verloren? Unter dieser "Überschrift" fand am Sonntag das vierte ökumenische Abendgebet in der Bonner Kirche St. Remigius statt. Dabei wurde der Bonner Stadtdechant Wolfgang Picken deutlich.

Teilnehmer beim ökumenischen Abendgebet in Bonn mit Stadtdechant Wolfgang Picken (z.v.r.) (Katholisches Stadtdekanat Bonn)

Neben den drei christlichen Konfessionen nahmen an dem ökumenischen Abendgebet als Gäste auch Vertreter von Judentum und Islam teil.

Die drei großen monotheistischen Weltreligionen waren versammelt, um in Coronazeiten von Bonn aus ein Zeichen des religionsübergreifenden Miteinanders in das Bundesgebiet zu senden, heißt es aus dem Bonner Stadtdekanat, das Veranstalter und Gastgeber war. Das ökumenische Abendgebet wird von #DABEI, dem neuen Fernsehsender der Deutschen Telekom, jeden Sonntag deutschlandweit ausgestrahlt.

Relevanzverlust der Religionen

In seiner Predigt sprach Bonns Stadtdechant, Dr. Wolfgang Picken, vom einem "Relevanzverlust der Religionen in der säkularisierten Gesellschaft", der in der Corona-Krise besonders deutlich geworden sei. "Dass von den Religionen nichts zu hören war, so als ob es in dieser Krise nur einen Weg gegeben hätte und sich jeder Kommentar erübrigen würde, das hat mich extrem irritiert und nicht wenige glaubende Menschen befremdet, enttäuscht." Fast habe der Eindruck entstehen müssen, "als hätten die Religionen zu dieser Krise nichts zu sagen."

Picken betonte, dass es hingegen die Aufgabe der Religionen sei, mit ihrer Ethik und ihrem Verständnis von der Würde des Menschen in gesellschaftlichen Abwägungsfragen einen Beitrag zur Bewertung und Lösungsfindung zu leisten. Man hätte zudem erwarten dürfen, so der promovierte Politologe, dass sich "die Religionen mit ihrem tieferen Einblick in die Seele des Menschen und ihrer Kompetenz für das Soziale als Anwalt derer verstehen, die von den staatlichen Maßnahmen besonders getroffen werden: Schwerstkranke und Sterbende, alte Menschen nicht nur in den Pflegeheimen, junge Familien, Jugendliche und Kinder, seelisch Beeinträchtigte."

Umso erstaunlicher sei, dass sich die Religionen kaum an der gesellschaftlichen Debatte der letzten Woche beteiligt hätten. Sie seien stattdessen fast in Sprachlosigkeit und "Staatsgläubigkeit erstarrt". Bonns Stadtdechant unterstrich, dass es auch für die säkulare Gesellschaft von hohem Nutzen sei, wenn sich die Religionen in Grundrechts- und Grundwertefragen als Korrektiv zu Wort melden würden: "Wenn es um die Freiheit und die Würde des Menschen geht, kann, das wissen wir aus vielen historischen Erfahrungen, die Ethik, damit auch die Religion, nicht wachsam genug sein."

Sprachlosigkeit überwinden

Der Bonner Stadtdechant forderte die Religionen auf, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden. Es müsse das Anliegen der Religionen sein, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf die Hintergründe der Corona-Krise zu lenken. "Wir Religionen sind gefordert, die Menschen unserer Tage darauf zu stoßen, dass diese Krise mehr als ein pragmatisches Management fordert, mehr als Hygienemaßnahmen, Abstandsregeln und Staatssubventionen."

Es dürfe kein Zurück in die "alte Normalität" geben. Diese Normalität habe die Welt in die gegenwärtige Krise gestürzt und bereits viele andere Krisen verursacht. Die Religionen müssten deshalb die Bevölkerung zum Innehalten aufrufen und die gegenwärtige Definition von Leben und Modernität, von Ökonomie und Konsum infrage stellen. "Wir Menschen werden zu grundlegenden Veränderungen bereit sein müssen, weil wir schlicht gesagt nicht gesund leben!" Anderenfalls stünde die Existenz von Menschheit und Schöpfung auf dem Spiel, so der Bonner Theologe.

Es sei deshalb das Gebot der Stunde, dass die Religionen die Weitsicht und den Atem aufbrächten, die Zeichen zu deuten und eine gesellschaftliche Debatte darüber anzustoßen, welche Lehren nachhaltig aus dieser Krise zu ziehen seien.