Spielerisch einen Zugang zum eigenen Körper finden

"Nur was ich schätze, kann ich schützen"

Sexualerziehung in der Schule befasst sich oft nur mit den biologischen Fakten. Dabei ist der menschliche Körper ein Gesamtkunstwerk, bei dem auch die Emotionen und Selbstannahme eine Rolle spielen. Elena Werner macht Angebote zu einem Lernprozess.

MFM-Mädchenworkshop (MFM)
MFM-Mädchenworkshop / ( MFM )

DOMRADIO.DE:  Frau Werner, lange bevor es die Missbrauchsdebatte mit allen daran anknüpfenden Diskussionen gab, hatte das Erzbistum Köln eine Referentin für Sexualpädagogik. Das ist für viele vermutlich neu. Was genau machen Sie?

Elena Werner (Referentin für sexualpädagogische Arbeit im Erzbistum Köln): Unser Grundanliegen ist, Menschen zu vermitteln, wie sie eine gute Beziehung zu ihrem eigenen Körper aufbauen können. Dazu müssen wir ganz früh ansetzen, nämlich bereits bei Kindern und Jugendlichen. Denn wie Mädchen und Jungen ihren eigenen Körper erleben und bewerten, hat großen Einfluss auf ihr Selbstbild und ihr Selbstwertgefühl. Sich als Frau und Mann zu bejahen und die körperlichen Veränderungen in der Pubertät in positiver Weise zu erleben, ist eine wichtige Entwicklungsaufgabe. Gerade die Art und Weise, wie junge Menschen auf diese körperlichen Veränderungen vorbereitet werden, wirkt sich auf ihre spätere Einstellung zu Gesundheit, Sexualität und Fruchtbarkeit aus. Es geht daher um die Annahme des eigenen Körpers, die Wertschätzung der geschlechtlichen Identität und um die Entdeckung dieses Wunders unserer Schöpfung, das uns von Geburt an mitgegeben ist. Darin wollen wir junge Leute stärken. Denn die Aufklärung über die Schönheit und Einzigartigkeit des eigenen Körpers macht selbstbewusster und ist daher auch ein wichtiger Beitrag zur Prävention von Missbrauch. Es geht darum, mit der Beziehung zum eigenen Körper gut umzugehen, sie zu gestalten. Dafür wollen wir begeistern, und dazu klären wir in den Schulen mit einem werteorientierten Programm auf.

DOMRADIO.DE: Die Sensibilität, mit der Sie an das Thema herangehen, äußert sich bereits in Ihrer Sprache, die für die Umschreibung der erwachenden Geschlechtsreife durchweg nur positive Begriffe gebraucht. Was ist das denn genau für ein Programm, mit dem Sie in die Schulen gehen?

Werner: Eine wertschätzende Sprache mit positiven Bildern und Vergleichen aus der Lebenswelt der Kinder spielt für uns eine ganz entscheidende Rolle. Denn uns leitet der Gedanke: Nur was ich schätze, kann ich schützen. Auf dieser Überzeugung gründet auch das Programm "My Fertility Matters" – kurz MFM genannt – was so viel bedeutet wie: Meine Fruchtbarkeit hat Bedeutung! Sie geht mich etwas an! Bei der schulischen Sexualerziehung im Klassenverband steht oft die Vermittlung von rein biologischen Fakten im Vordergrund. Wir aber wollen mehr. So bietet das MFM-Programm durch Ansprache der emotionalen Ebene eine ideale Ergänzung zum Unterricht: In geschlechtsspezifischen Workshops werden die Mädchen und Jungen auf eine Entdeckungsreise durch den weiblichen bzw. männlichen Körper geschickt. Dabei erleben sie die Vorgänge rund um Pubertät, Zyklusgeschehen, Fruchtbarkeit und die Entstehung neuen Lebens altersentsprechend, liebevoll und im geschützten Rahmen. Eine Fülle von anschaulichen farbenfrohen Materialien und aktives Mitmachen ermöglichen Lernen mit allen Sinnen.

DOMRADIO.DE: Nun ist Heranwachsenden ja schon mal schnell etwas peinlich, erst recht wenn es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität geht – und dann auch noch vor anderen…

Werner: Durch eine ganzheitliche Wissensvermittlung erlangen die Mädchen und Jungen bereits nach kurzer Zeit – manchmal nur einem Workshop-Tag – eine erstaunliche Kompetenz für ihren Körper. Dazu gehört auch, dass sie Fachbegriffe und Funktionen ihres Körpers kennenlernen. Gekichert wird in diesen Workshops eigentlich nur in den ersten 20 Minuten. Doch dann legen die Schüler ihre Unsicherheit allmählich ab – und auch die leider recht verbreiteten umgangssprachlichen Begriffe, mit denen sie üblicherweise diese tabuisierten Vorgänge untereinander eher abfällig besprechen. In den jeweils altersgerechten Modulen lernen sie die Zusammenhänge verstehen, die Fachbegriffe selbst zu verwenden. Dadurch lassen sie sich nicht mehr so leicht verunsichern und entwickeln so ein gesundes Selbstvertrauen in ihren eigenen Körper.

DOMRADIO.DE: Wie sehen diese Workshops denn aus?

Werner: Ganz wichtig: Sie sind nach Altersgruppen gestaffelt, und bei den Jüngeren auch geschlechtsgetrennt. Da gibt es zunächst die "KörperWunderWerkstatt" für Mädchen und Jungen der 4. Klasse, in der sie erleben, wie sich ihr Körper in der Pubertät in ein "Meisterstück" verwandelt. Dabei lernen sie die verschiedenen pubertären Veränderungen kennen und erfahren so behutsam, wie neues Leben entsteht und wie kostbar ihr Körper ist.
Unser nächstes Workshopangebot richtet sich an Fünftklässler. In der "Zyklusshow" für die Mädchen wird die "Bühne des Lebens" – das sind die inneren weiblichen Geschlechtsorgane mit Gebärmutter, Eierstöcken und Eileiter – in einem Bodenbild aus kostbaren Stoffen und Materialien gestaltet. Zunächst erleben die Mädchen, wie neues Leben entsteht und wie der Körper der Frau alles für diesen besonderen Gast mit Hilfe der weiblichen Hormone vorbereitet. In einem zweiten Teil stehen die Mädchen mit ihrem eigenen Körper im Mittelpunkt. Sie schlüpfen nun selbst bei einer Art "Mitmach-Theater" in die Rolle der Hormone und erfahren, dass sich ihr Körper mit Beginn der Pubertät zum allerersten Mal auf diesen besonderen Gast vorbereitet, und zwar unabhängig davon, ob er letztendlich kommt oder nicht. In diesem Zusammenhang machen sie sich vertraut mit den Östrogenhormonen, die wir als "die besten Freundinnen der Frau" bezeichnen, weil sie es sind, die das Mädchen zur Frau machen und vielfältig für ihr Wohlbefinden sorgen, zum Beispiel für starke Knochen und den Schutz der Blutgefäße. Die Mädchen erleben, dass die Gebärmutterschleimhaut jeden Monat neu mit allem Luxus ausgestattet wird. Wenn dann, wie so oft, der Gast doch nicht kommt, kann es sich der Körper leisten, diesen ganzen Luxus wieder zu erneuern. Das ist dann die Blutung.

DOMRADIO.DE: Und was erleben in der Zwischenzeit die Jungen für sich?

Werner: Sie schlüpfen unter dem Motto "Agenten auf dem Weg" in die Rolle der Spermien und erfahren in einem Stationenspiel, wie die Spermien im Hoden gebildet werden, wie sie im Nebenhoden ausreifen und welche weiteren Organe sie auf ihrem abenteuerlichen Weg durch den männlichen Körper passieren. Wenn sich die Spermien dann ins "Land des Lebens", den Körper der Frau, begeben, erfahren auch die Jungs, wie neues Leben entsteht, wenn ein Siegerspermium zu guter Letzt die Königineizelle befruchten darf. Immer werden spielerische Elemente mit biologischem Fachwissen kombiniert, untermalt von Musik und begleitet von vielen Aktivitäten im Sinne von ganzheitlichem Lernen. So wird das Geschehen positiv besetzt und nachhaltig. Die Workshops sind jeweils auf sechs Schulstunden angelegt.

DOMRADIO.DE: Sie sprechen von altersgerecht. Das heißt, schon ein wenig ältere Jugendliche brauchen ein anderes Input?

Werner: Das ist richtig. Daher bieten wir Jugendlichen ab 14 Jahren den Workshop "WaageMut" mit dem Dreischritt "informieren, abwägen, ermutigen" an. Dabei geht es um ein vertieftes Verständnis für die gemeinsame Fruchtbarkeit von Mann und Frau, und es geht um die Wirkweise der verschiedenen, insbesondere hormonellen Verhütungsmethoden im eigenen Körper. Bei der letzten Einheit geht es dann um Impulse für eine gelingende Beziehung. Auch hier ist das Ziel, die Jugendlichen sprachfähig zu machen und sie dabei zu unterstützen, dass sie – mit ihrem dann differenzierten Wissen – eigenverantwortliche Entscheidungen treffen können. Denn obwohl sich ein Großteil der Jugendlichen nach aktuellen Umfragen zu Themen wie "Zyklus" oder "Fruchtbarkeit" ausreichend informiert fühlt, erleben wir in der Realität häufig ein recht oberflächliches Halbwissen. Daher wollen wir ihnen Orientierungshilfen an die Hand geben.

DOMRADIO.DE: So ein Halbwissen kann ja auch gefährlich sein…

Werner: Genau. Beispielsweise ist noch weithin die Ansicht verbreitet, ein Zyklus hätte 28 Tage und der Eisprung finde so um den 14. Tag statt. Diese unzutreffende Verallgemeinerung kann zu ungeplanten Schwangerschaften führen, weil der Zyklus in der Realität sehr variabel ist und die fruchtbare bzw. unfruchtbare Zeit nicht einfach "berechnet" werden kann, sondern anhand von Körpersymptomen bestimmt werden muss. Ein anderes Beispiel: Mädchen können bereits kurz vor ihrer ersten Regelblutung schwanger werden, weil zu diesem Zeitpunkt erstmals eine Befruchtung theoretisch möglich wäre. Auch das ist ein Faktum, das vielen nicht bekannt ist. Und dann geht es bei "WaageMut" schließlich auch um Verantwortung – gegenüber der eigenen Sexualität, aber auch der eines anderen. Im Bild gesprochen: Wir legen mit unserer sexualpädagogischen Arbeit ein kleines Samenkorn und hoffen, dass die Saat aufgeht und die Jugendlichen diese Workshops als hilfreich bei ihrem persönlichen Reifungsprozess erleben. Wir geben einen Raum für Fragen und machen eben mehr als nur theoretische Wissensvermittlung. Von daher verstehen wir unseren Beitrag als Ergänzungsangebot zum Biologieunterricht.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielen denn die Eltern dabei?

Werner: Die Eltern sind Ansprechpartner Nummer 1 für ihre Kinder, wenn es um Themen wie Pubertät geht. Daher wollen wir sie bei Vortragsabenden in ihrer Erzieherrolle stärken und dabei ermutigen, ihrem Kind einen positiven Zugang zu seinem Körper zu vermitteln. Der gleiche Wissensstand ebnet den Weg für das gemeinsame Gespräch in der Familie und erleichtert die Nachbereitung für die Lehrkräfte im Unterricht. Manchmal erleben sich Lehrer und Eltern ja auch als hilflos. Dann rufen sie bei mir an und fragen, was sie machen können. Und das sind gar nicht mal wenige – auch wenn manch einer dabei eine Schere im Kopf hat und glaubt, dass gerade von Kirche kein nennenswerter Beitrag zu einem solchen Thema zu erwarten ist. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Auf diese vielen Anfragen – und die kommen nicht nur von Erzbischöflichen Schulen – antworten wir mit einem stimmigen Angebot. Dafür sind wir da. Außerdem geschieht gar nicht selten, dass auch Erwachsene an solchen Abenden noch das eine oder andere Aha-Erlebnis beim Thema Aufklärung haben.

DOMRADIO.DE: Nochmals zur Ausgangsfrage zurück. Der Kirche ist diese sexualpädagogische Arbeit ein Anliegen. Sonst gäbe es nicht jemanden wie Sie. Wie kam es dazu, dass sich Kirche überhaupt bei diesem Thema so engagiert?

Werner: Erste Forschungen zum weiblichen Zyklus gibt es seit den 50er Jahren. Erkenntnisse daraus hat Papst Johannes Paul II. dann in sein Apostolisches Schreiben "Familiaris Consortio" mit einfließen lassen. Das Anliegen der deutschen Bischöfe Anfang der 80er Jahre war es, Paaren eine wissenschaftlich fundierte, natürliche und gleichzeitig sichere Alternative zur damals aufkommenden Empfängnisverhütung mit der Pille anbieten zu können. Deshalb unterstützten und förderten sie 1981 die Bildung einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe zur Natürlichen Familienplanung, die in den folgenden Jahren die "symptothermale Methode der Arbeitsgruppe NFP" entwickelte, wissenschaftlich überprüfte, veröffentlichte und eine Beratungsstruktur zum Erlernen der Methode aufbaute. Zu dieser Expertengruppe gehörten auch die beiden Ärztinnen Petra Frank-Herrmann und Elisabeth Raith-Paula, die damals die ersten Dissertationen zu den "Modernen Methoden der Natürlichen Familienplanung" in München schrieben und Fachliteratur zum Thema veröffentlichten. Um das Basiswissen zu Zyklus und Fruchtbarkeit – über die NFP-Anwenderszene hinaus – einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen und speziell jungen Mädchen mehr Wissen und einen positiveren Zugang zu ihrem eigenen Körper zu geben, gründete Frau Raith-Paula 1999 in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Ehe und Familie des Erzbistums München und Freising das "MFM-Projekt". Es entstanden der Zyklusshow-Workshop und bald darauf der Jungenworkshop "Agenten auf dem Weg". Inzwischen hat sich daraus der gemeinnützige Verein MFM Deutschland e.V. gebildet; er ist Träger des gesamten MFM-Programms. MFM ist inzwischen mit elf Partnerorganisationen in neun europäischen Ländern sowie in China, USA und Mexiko vertreten.

DOMRADIO.DE: Wir müssen unser Wissen weitergeben, sagt ja auch Papst Franziskus in "Amoris Laetitia". Wenn man seine Enzyklika genau liest, entdeckt man in seinen Darlegungen viele Analogien zum MFM-Programm…

Werner: In der Tat gebraucht der Papst identische Begriffe, was eine große Bestätigung für unsere Arbeit ist. Auch ihm geht es um Wertschätzung des eigenen Körpers in seiner Weiblichkeit und Männlichkeit. Und er schreibt, dass Sexualerziehung "den jeweiligen Altersstufen angepasst" sein und im geeigneten Moment erfolgen soll. Auch das ganzheitliche Arbeiten mit Herz und Verstand, wie wir das nennen, ist ihm ein Anliegen, wenn er davon spricht, "offen zu sein für Beiträge aus Psychologie, Soziologie, Sexualforschung, Medizin…". Denn längst ist wissenschaftlich erwiesen, dass emotionsbesetzte Erlebnisse viel tiefer verankert werden als neutrale Informationen. Und dass es dafür auch einer angemessenen Sprache bedarf, ist ebenfalls ein Punkt, den Franziskus bewusst benennt und der genau unser Anliegen aufgreift.

DOMRADIO.DE: Sie erleben in den Workshops so viele Kinder und Jugendliche. Was ist dabei das Schönste für Sie?

Werner: Wenn ein Mädchen sagt: "Ich habe gar keine Angst mehr vor der ersten Blutung." Oder wenn ich von einem Referenten höre, dass nach dem Workshop der vorlauteste Junge erklärt: " Jetzt habe ich richtig viel verstanden."


 Elena Werner (Referentin für sexualpädagogische Arbeit im Erzbistum Köln) / © Tomasetti (DR)
Elena Werner (Referentin für sexualpädagogische Arbeit im Erzbistum Köln) / © Tomasetti ( DR )

MFM-Mädchenworkshop (MFM)
MFM-Mädchenworkshop / ( MFM )
Quelle:
DR