Experten sehen Familien im Sozialstaat eklatant benachteiligt

"Sozialer Sprengstoff"

Katholische Sozialrechtler und Familienvertreter fordern den Systemwechsel. Vor dem Bundesverfassungsgericht wollen sie erreichen, dass Familien weniger Sozialabgaben zahlen müssen.

Autor/in:
Volker Hasenauer
Junge Familie in Deutschland / © Daniel Karmann (dpa)
Junge Familie in Deutschland / © Daniel Karmann ( dpa )

Es geht ihnen nach eigenen Angaben um Gerechtigkeit. Nicht mehr, nicht weniger. Die vom Familienbund der Katholiken und von Sozialrechtlern vorgetragene Analyse lautet: Der Staat beutet Familien aus, indem diese zur Finanzierung von Renten-, Pflege- und Krankenversicherung überproportional zur Kasse gebeten werden. Jährlich 120 Milliarden Euro würden von Familien hin zu Kinderlosen verteilt. Und diese Schieflage müsse endlich durch einen radikalen Systemwechsel bei der Finanzierung der Sozialsysteme beseitigt werden.

Seit Jahren verfolgt der Familienbund der Katholiken das ehrgeizige Ziel - gegen große politische Widerstände aus allen Parteien. Unterstützt wird er vom prominenten Robin Hood für Familienrechte, dem umtriebigen Rechtsanwalt und früheren Sozialrichter Jürgen Borchert. Bei einer Fachtagung in der Katholischen Akademie Freiburg zogen die Streiter für bessere staatliche Familienförderung nun eine Zwischenbilanz ihrer aktuellen Arbeit.

"Ausbeutung von Familien"

Im vergangenen Herbst scheiterten sie vor dem Bundessozialgericht. Die Kasseler Richter wiesen die Musterklage einer Freiburger Familie ab, Eltern von minderjährigen Kindern in der gesetzlichen Kranken- Renten- und Pflegeversicherung zu entlasten. Der Gesetzgeber habe einen weiten sozialpolitischen Spielraum. Eltern würden zudem durch Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung und die beitragsfreie Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung entlastet.

Borchert spricht von einem Skandalurteil: "Die Richter haben sich mit unseren detailliert vorgetragenen Argumenten kaum auseinandergesetzt. Sie decken die Ausbeutung von Familien", kritisiert der Jurist. Auch warte er als Prozessbevollmächtigter noch immer auf das schriftliche Urteil, das eigentlich längst vorliegen sollte. "Erst wenn wir das Urteil haben, können wir uns an das Bundesverfassungsgericht wenden." Denn, so Borcherts Überzeugung, letztlich kann ein Systemwandel nur vom Verfassungsgericht angestoßen werden.

Hunderte Klagen angestrebt

Schon einmal gab Karlsruhe einer von Borchert vorgebrachten ähnlichen Klage Recht: 2001 entschieden die Verfassungsrichter, dass Eltern mit minderjährigen Kindern in der Pflegeversicherung besser gestellt werden müssen. Die Politik reagierte und verankerte einen Beitragsaufschlag von 0,25 Prozentpunkten für Kinderlose. Der vom Verfassungsgericht erteilte Auftrag, auch die Renten- und Krankenkassenfinanzierung auf Familiengerechtigkeit zu prüfen, verlief jedoch im Sand.

Das will der Familienbund mit Hilfe von mehreren Hundert Klagen vor Sozialgerichten in ganz Deutschland jetzt ändern. Hinzu kommt eine direkt in Karlsruhe eingereichte Verfassungsbeschwerde gegen das 2015 in Kraft getretene Gesetz zum "Pflegevorsorgefonds". Hierin sollen bis 2035 jährlich 1,2 Milliarden Euro aus aktuellen Rentenbeiträgen angespart werden - um dann ins System zurückzufließen, wenn aufgrund der demografischen Entwicklung immer mehr Rentnern immer weniger Beitragszahler gegenüberstehen.

"Auch hier werden wieder die Familien, die ja gerade durch ihre Kinder einen Beitrag zur Zukunftssicherung des Systems leisten, dramatisch benachteiligt", so Familienbundvertreter Georg Zimmermann. Karlsruhe, so seine Hoffnung, müsse deshalb die vielschichtigen Ungerechtigkeiten bei der Finanzierung des Sozialwesens in einer großen Gesamtlösung beseitigen.

Ausweg: Wechsel zu Bürgerversicherung

Borchert wiederum warnt, dass das System schon jetzt vor dem Kollaps stehe. "Die Leute merken, dass sie immer mehr in die Rentenkasse zahlen müssen und am Ende eine Rente bekommen, die unter dem Existenzminimum liegt. Das ist enormer sozialer Sprengstoff." Eine aktuelle Studie rechnet vor, dass ein heute 13-Jähriger im Lauf seines Lebens durchschnittlich 77.000 Euro mehr in die Rentenkasse einzahlen wird, als er selbst an Rente beziehen wird.

Einen Ausweg sehen Borchert und seine Mitstreiter nur im Wechsel hin zu einer Bürgerversicherung, bei der die Gesamtheit aller Einkommen von jedem Bürger zur Finanzierung der Sozialleistungen genutzt wird. Verbunden mit der Anrechnung von Erziehungszeiten und Kinderzahl bei den Beiträgen könne so die Diskriminierung von Familien und vor allem von Frauen überwunden werden.


Quelle:
KNA