Achtsamkeitstrainerin über einen guten Umgang mit Corona

"Wohlbefinden kann man trainieren"

In Corona-Zeiten liegen die Nerven bei vielen blank, die langen Monate der Pandemie mit ihren Einschränkungen machen viele Menschen mürbe. Eine achtsame Haltung kann helfen, besser durch diese belastende Zeit zu kommen.

Autor/in:
Angelika Prauß
Symbolbild: Achtsamkeit, den Augenblick bewusst wahrnehmen / © Olena Yakobchuk (shutterstock)
Symbolbild: Achtsamkeit, den Augenblick bewusst wahrnehmen / © Olena Yakobchuk ( shutterstock )

KNA: Frau Büchel-Bogut, Achtsamkeit ist heute in aller Munde - was bedeutet sie eigentlich?

Tanja Büchel-Bogut (Achtsamkeitslehrerin): Achtsamkeit ist eine wunderbare Fähigkeit im Leben, die uns allen eigentlich von Natur aus innewohnt. Sie knüpft an unsere Ressourcen und Potenziale an, die wir durch sie wieder neu entdecken können. Achtsamkeit lädt dazu ein, das Leben offener, wertfreier und freundlicher wahrzunehmen. Es geht darum mitzukriegen, was gerade in und um uns herum passiert.

Wir treten dabei mit uns selbst und mit unserem Erleben in Kontakt, sind mit allen fünf Sinnen ganz aufmerksam im Hier und Jetzt. Eine mögliche Definition von Achtsamkeit: "Zu wissen, was du erlebst, während du es erlebst." Dadurch können wir uns selbst besser einschätzen, besser reagieren und damit besser für uns sorgen. Das ist wie bei der Wettervorhersage: Wenn ich wahrnehme, dass Wolken aufziehen, kann ich schon mal einen Schirm einpacken, damit ich nicht nass werde. Aber im Alltag werden leider oft andere Qualitäten belohnt, und die Achtsamkeit gerät dabei aus dem Blick. Deshalb ist es hilfreich, wenn wir sie immer wieder trainieren.

KNA: Können Sie ein einfaches Beispiel für achtsame Wahrnehmung nennen?

Büchel-Bogut: Ein Klassiker ist die Rosinenübung. Dabei geht man mit dem sogenannten Anfängergeist - also mit großer Offenheit und Entdeckerfreude - so auf Phänomene zu, als begegneten sie einem zum ersten Mal. Bei der Rosinenübung erkundet man mit allen Sinnen - Sehen, Riechen, Tasten, Hören und Schmecken - drei Rosinen. Für die Wahrnehmung der ersten Rosine gibt es eine geführte Anleitung, beispielsweise durch einen Kursleiter. Die zweite Rosine entdeckt man im Anschluss in seinem eigenen Tempo, ohne Anleitung. Und die dritte Rosine isst man dann "ganz normal" und spürt dem Unterschied zu Rosine eins und zwei nach.

Das A und O für mehr Achtsamkeit ist, sich mehr Langsamkeit zu gönnen - und seien es nur ein paar Minuten, in denen ich meinen Atem wahrnehme. Selbst banale Tätigkeiten wie den Griff zum Wasserglas kann ich bewusster ausführen. Ich kann mir auch einen Gegenstand auf den Tisch legen, der mich immer wieder daran erinnert, kurz innezuhalten.

KNA: Hilft eine achtsame Haltung auch, besser durch die Corona-Zeit zu kommen?

Büchel-Bogut: Ich denke schon. Denn durch Achtsamkeit können wir unsere Grenzen besser wahrnehmen und früher spüren, was heilsam und was nicht so heilsam für uns ist - etwa Grübeleien und negative Gedankenspiralen. Gefühle entstehen durch Gedanken, und wenn ich etwa merke, dass mich die täglichen Meldungen über steigende Corona-Zahlen und die Folgen der Pandemie beunruhigen, kann ich meinen Nachrichtenkonsum reduzieren. Denn Angst bedeutet für unseren Körper erheblichen Stress, den bringt die Corona-Zeit mit sich, und die dadurch veränderte Hormonausschüttung schwächt unser Immunsystem.

KNA: Achtsamkeit bedeutet also auch, den Fokus - gerade in belastenden Situationen - bewusst auf etwas Positives zu lenken?

Büchel-Bogut: Ja, denn es geht darum, unser Wohlbefinden zu stärken und mehr Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln. Damit fühlt man sich einer Situation weniger ausgeliefert und hat wieder mehr das Heft in der Hand. So kann man in belastenden Zeiten gezielt für einen Ausgleich sorgen. Wohlbefinden ist eine Fähigkeit, die man trainieren kann. Die Krux ist: Wir haben häufig den Kontakt zu unseren Grenzen verloren, wir nehmen sie oft gar nicht mehr so genau wahr. Achtsamkeit hilft uns dabei - erst wenn ich meine Grenzen kenne, kann ich sie auch wahren.

Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl hat es einmal so formuliert: "Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit."

KNA: Während der Corona-Zeit hat sich der Stress verlagert: weniger Termine und Zeitdruck, dafür vielleicht mehr Einsamkeit. Wie können da Achtsamkeitsübungen helfen?

Büchel-Bogut: Wenn ich weiß, was mir guttut, kann ich auch besser für mich sorgen. Dafür muss ich aber erst wieder lernen, das Gute auch wahrzunehmen - etwa einen wohltuenden Austausch mit einem Freund, einen Spaziergang in der Natur oder - wenn es zu eng wird - eine kleine Auszeit mit der Familie vereinbaren. Nur wenn wir uns wohlfühlen, fühlen sich meist auch die Menschen um uns herum wohl. Achtsamkeit hat zudem viel mit Selbstfürsorge zu tun. Das lässt sich mit einem Notfall im Flugzeug vergleichen: Erst muss ich mir selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen, bevor ich mich um andere kümmern kann.

KNA: Kann Achtsamkeit tatsächlich auch bei völliger Isolation helfen?

Büchel-Bogut: Ja, denn durch sie fühle ich mich mehr mit mir selbst und der Welt im Kontakt. Beispiel Rosinenübung: Wenn ich den Weg der Rosine in meiner Hand zurück zu ihrem Ursprung verfolge, dann kann ich eine große Verbundenheit spüren: mit der Natur, mit dem Menschen, der die Rebe gepflanzt und die Traube geerntet hat, mit allen, die am Transport bis ins Geschäft beteiligt waren. Wenn man sich das vergegenwärtigt, merkt man, wie verbunden man doch mit allem ist, was einen umgibt.

KNA: Corona sorgt bei vielen für Frust. Gibt es Achtsamkeitsübungen, die für gute Laune sorgen?

Büchel-Bogut: Erst mal ist es enorm hilfreich, sich wohltuende Gewohnheiten anzueignen. Bei mir ist es ein bewusstes Tänzchen am Morgen, andere hören ihr Lieblingslied und singen laut mit. Angenehm kann es auch sein, wenn man im Stehen die Hände stark aneinander reibt und die warmen Handflächen auf verschiedene Körperstellen legt. Mindestens drei Ereignisse notieren, für die ich heute dankbar bin, sorgt ebenfalls für ein inneres Lächeln vor dem Schlafengehen. Ich lasse mich zudem von unserem Hund inspirieren: Wenn er Stress hat, schüttelt er sich kräftig aus - danach geht es ihm direkt viel besser.


Quelle:
KNA