Soziologe Bude über das Leben mit Abstandsgebot

"Die allermeisten Menschen bekommen das gut hin"

Abstand halten lautet in der Corona-Krise das Gebot der Stunde. Wer sich nicht daran hält, gilt - so paradox das auch klingen mag - als egoistisch und unsozial. Aber funktioniert eine Gesellschaft überhaupt auf Abstand?

Autor/in:
Andreas Laska
Warnhinweis mit Abstandsregelung während der Corona-Pandemie / © Armin Weigel (dpa)
Warnhinweis mit Abstandsregelung während der Corona-Pandemie / © Armin Weigel ( dpa )

KNA: Herr Professor Bude, soziale Kontakte gelten derzeit als risikobelastet, sollten vermieden oder zumindest stark eingeschränkt werden. Wie sehen Sie als Soziologe die Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen?

Heinz Bude (Professor für Soziologie an der Universität Kassel): Eigentlich haben wir ja gar keine Kontaktbeschränkungen. Die sozialen Kontakte sind immer noch da. Was wir hingegen erleben, ist eine Transformation dieser Kontakte durch die Abstandsregelungen. Gerade jetzt, wo Lockerungen in Kraft treten, ist das besonders auffällig. Und auffällig ist auch: Die allermeisten Leute bekommen das sehr gut hin. Wenn man sich heute auf der Straße trifft, dann begrüßt man sich eben ohne Körperkontakt und unterhält sich über eine Distanz von eineinhalb Metern hinweg. Für viele ist das schon selbstverständlich geworden.

KNA: Wie erklären Sie sich das?

Bude: In Gesellschaften unserer Art sind wir seit langem gewohnt, in vielen gesellschaftlichen Situationen Distanzregeln einzuhalten. Bei einem Empfang verhält man sich anders als im Fußballstadion. Deshalb ist es gar nicht einfach abzuschätzen, ob die Abstandsregeln unter den Verhältnissen von Corona unser Sozialverhalten langfristig verändern werden. Was sich mit Sicherheit ändern wird, ist unser Verhältnis zu Körperkontakten. Da werden die Leute wählerischer werden. Wobei es nicht so wenige gibt, die darüber keineswegs unglücklich sind. Im Gegenteil: Es gibt genügend Leute, die durchaus froh darüber sind, dass sie nicht jeden Bekannten gleich bei der zweiten Begegnung in den Arm nehmen müssen.

KNA: Ein anderer Trend in dieser Krise: Viele Kontakte - ob privat oder beruflich - verlagern wir derzeit ins Virtuelle. Aber können Videotelefonate und -konferenzen überhaupt ein Ersatz sein für reelle Begegnungen?

Bude: Hier gilt es zwei Dinge zu unterscheiden. Das eine ist die zielgerichtete Kommunikation, die sich in der Corona-Krise in vielen Fällen ins Internet verlagert und damit auch verändert hat. Man überlegt sich genau, was man in den 40 Minuten eines Calls sagen will und wird unruhig, wenn jemand sich zu viel Zeit nimmt, bis er oder sie zum Punkt kommt. Hinzu kommt: Viele Menschen haben sich im Laufe der Zeit eine hohe Kompetenz im Umgang mit den sozialen Medien angeeignet, andere haben ihre entsprechenden Fähigkeiten in der Corona-Krise weiter ausgebaut. Auch hier würde ich also wieder von einem Transformationsprozess sprechen, nicht von einem Verlust.

KNA: Und das andere?

Bude: Das andere ist der Bereich der sogenannten diffusen Kommunikation: das Getuschel bei einer Veranstaltung, das kurze Gespräch am Buffet, der rasche Austausch mit dem Nachbarn. Wir wissen aus der Kommunikationsforschung, dass gerade diese Momente sehr wichtig sind für die Übermittlung von Wissen, für die Einordnung von Eindrücken und letztlich sogar für das Entstehen von neuen Ideen. All das aber fällt jetzt weg. Und das ist in der Tat ein Problem - für das ich im Moment aber noch keine Lösung sehe.

KNA: Was derzeit ebenfalls wegfällt, ist das Kennenlernen neuer Menschen. Wir sind auf den Ist-Zustand unserer sozialen Beziehungen reduziert. Welche Folgen hat das für die Gesellschaft?

Bude: Diese Frage treibt derzeit vor allem Singles um, und für Singles ist das ohne Zweifel auch ein gewisses Problem. Aber die meisten Menschen sind ohnehin nicht sehr darauf erpicht, neue Menschen kennenzulernen. Das wissen wir aus vielen Untersuchungen. Insofern dürfte die Corona-Krise hier nicht zu großen Veränderungen führen.

KNA: Und wie sieht es bei Kindern aus? Auch ihnen wird derzeit das Abstandhalten eingebläut. In der Schule oder im Kindergarten wird die Zahl der möglichen Kontaktpersonen stark eingeschränkt. Welche Auswirkungen hat das auf das Sozialverhalten der Kinder, das sie ja eigentlich in Schule und Kita lernen sollen?

Bude: Aber das lernen sie doch immer noch und sogar noch viel stärker! Indem sie mit Abstandsregeln konfrontiert werden, lernen sie, ihre sozialen Kontakte zu differenzieren. Sie erfahren, wie viele Begegnungen trotz dieser Regeln noch möglich sind. Eine große Chance könnte die Situation übrigens für schüchterne Kinder sein, die sich langsam und vorsichtig auf andere zubewegen. Die könnten jetzt geradezu aufblühen.

KNA: Unsere Gesellschaft funktioniert also weitgehend auch auf Abstand. Ist das Ihr Fazit?

Bude: In vielerlei Hinsicht ist das sicher der Fall. Ich denke aber, dass Politik und Wissenschaft drei Bereiche gesondert in den Blick nehmen müssen. Das eine sind die Singles, vor allem die alleinlebenden Menschen ab 60. Die fühlen sich trotz der Lockerung der Beschränkungen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Die hat die Botschaft tief getroffen, dass man vor allem wegen ihnen die Gesellschaft zum Stillstand gebracht hat. Das andere sind die Familien, die zwischen Homeschooling und Homeoffice aufgerieben werden. Da passieren gerade einige hoch emotionale Verhandlungen über die Arbeitsteilung in den familiären Lebensgemeinschaften. Und dann gibt es noch das Erleben von Leistungsfrustration. Man hatte sich im Beruf oder im eigenen Betrieb einiges vorgenommen und entsprechende Vorkehrungen getroffen. Diese Menschen sehen jetzt ihre Lebenspläne zerrinnen - und wehren sich entsprechend. Kurzarbeit und Überbrückungskredite können diese Gruppe der Leistungsindividualisten nicht beruhigen. Das ewige Warten zermürbt. Gibt es eine Zukunft, an die man glauben kann? Auch das ist Teil des Transformationsprozesses, in dem wir uns gerade befinden.


Quelle:
KNA