Superstars im Netz und Karnevalslieder auf dem Balkon

Wie Musik in Krisenzeiten helfen kann

Ob Stadionrock, Oper oder Festival-Stimmung: Darauf müssen Musikliebhaber vorerst verzichten. Bis Ende August sind Großveranstaltungen bundesweit verboten, Veranstaltungen reihenweise abgesagt. Doch es gibt Alternativen.

Autor/in:
Paula Konersmann
Der Balkon: Freiheit, die momentan übrig bleibt / © Patrick Seeger (dpa)
Der Balkon: Freiheit, die momentan übrig bleibt / © Patrick Seeger ( dpa )

Wenn die Kirchenglocken verstummen, flirren Klaviertöne durch die Frühlingsluft. Anwohner lehnen sich aus dem Fenster, treten auf den Balkon oder vor die Haustür - um gemeinsam zu singen. Manche lauschen den Melodien still. Ein paar Minuten ist der Corona-Alltag weit weg. Die Bilder vom "Balkonsingen" in Italien gingen um die Welt, als der Lockdown dort gerade begonnen hatte. In Deutschland gibt es hier und da Nachahmer, die mal alte Volksweisen singen, mal Karnevalslieder.

Die Suche nach Ausgleich ist kein neues Phänomen. "Eine Zäsur, ein Ruhepunkt, auf andere Gedanken kommen: Diese Impulse sind unbedingt notwendig, um aus dem Hamsterrad des Alltags auszusteigen", sagt der Musikwissenschaftler Michael Kaufmann. Dies gelte auch in Zeiten, die nicht von einer Pandemie geprägt sind. Gerade in Krisen sei Musik "eine der Hauptstützen". Schon archäologische Funde von Flöten aus der Steinzeit zeigten, wie alt die Freude des Menschen an der Musik sei.

Positive Wirkung der Musik

Inzwischen belegen zahlreiche Studien, dass beim Singen bestimmte Glückshormone ausgeschüttet, Angst- und Stresshormone dagegen reduziert werden. Bindungen verstärken sich beim gemeinsamen Musizieren, erklärt die Musiktherapeutin Kordula Voss. "Das Ohr ist unser erstes voll ausgeprägtes Organ. Nach fünf Monaten hört ein Baby im Mutterleib erste Geräusche und Stimmen." Wenn Menschen einen Chor bilden, gleichen sich zudem ihr Atem und ihr Pulsschlag an. Und selbst wer unter der Dusche singt, tut sich selbst etwas Gutes, wie Kaufmann betont.

Das Gefühl, dass Musik unter die Haut geht, kennt wohl jeder. Harald Lange forscht am bundesweit einzigartigen Institut für Fankultur in Würzburg. "Auch wer keine Studien zum Thema kennt, weiß, dass Musik gut tut", meint er. Dabei gehe es nicht in erster Linie darum, ob jemand singen "könne", also alle Töne perfekt treffe oder einen besonders schönen Klang erzeuge. Lange verweist auf den Gesang von Fußballfans, der bei den derzeitigen "Geisterspielen" der Bundesliga fehle: "Dieser Gesang ist vielleicht nicht immer schön, aber ein Gruppenerlebnis, das verbindet - auch über das Stadion hinaus, etwa über Radio und Fernsehen."

Gemeinschaftsgefühl

Schon lange vor den Kontaktbeschränkungen durch die Pandemie sei es schwieriger geworden, Gemeinschaften zu erleben, fügt Lange hinzu. Konzerte oder Sportveranstaltungen böten diese Möglichkeit: Die Dramaturgie vor Ort sorge dafür, dass alle Anwesenden sich auf dieses eine Ereignis fokussierten. "Wir genießen das Gefühl, mit dem Ereignis, das nur hier und jetzt stattfindet, zu verschmelzen."

Genau dieses Gefühl fehlt derzeit vielen Menschen. Musiktherapeutin Voss bietet ihre Singgruppen über Online-Plattformen an. Vorübergehend sei das "besser als nichts", sagt sie. Dass Livemusik als mitreißender erlebt wird als Songs aus der Konserve, komme jedoch nicht von ungefähr. "Über Platte, CD oder das Internet erreichen uns weniger Schallwellen, beispielsweise keine Obertöne", erklärt sie. Dennoch biete es Struktur, wöchentlich an einer Online-Singgruppe oder einer Chorprobe per Videochat teilzunehmen. "Selbstwirksamkeit - das Gefühl, selbst etwas tun zu können -, ist in Krisen wichtig."

Die meisten Menschen hätten zudem eine "musikalische Hausapotheke", so nennt es die Expertin: Lieder, die in traurigen Zeiten helfen, und Songs, die mit schönen Erinnerungen verbunden sind, etwa an die eigene Hochzeit, die erste große Liebe oder die Kindheit. Insofern könnten auch Events wie das virtuelle Benefiz-Konzert "One World: Together at Home" eine Form von Bindung ermöglichen, sagt Fanforscher Lange. Megastar Lady Gaga hatte die Show im April organisiert, Künstler aller Genres beteiligten sich.

Alle von den Einschränkungen betroffen

"Wer sich online angesehen hat, wie die einzelnen Musiker zu Hause ihren Teil beigetragen haben, der konnte gerührt sein", so Lange. Schließlich habe das Event gezeigt, dass auch noch so große Stars von den Einschränkungen betroffen seien - und sich wie viele andere bemühten, das Beste aus der Situation zu machen. Musikwissenschaftler Kaufmann erklärt, aus dem Bewusstsein, dass die Musiker gleichzeitig aufträten und Fans in aller Welt wiederum gleichzeitig zuschauten und zuhörten, könne ein Gemeinschaftsgefühl entstehen.

Weniger bekannte Künstler stünden derzeit vor massiven Problemen, gibt Kaufmann zu bedenken. Lange sieht auch Chancen in der Ausnahmesituation: "Neue Formate sind gefragt, und mancher Künstler wird vielleicht neu entdeckt."

Für die Zeit "nach Corona" rechne er mit einer regelrechten "Kultur-Explosion" - denn: "Leibhaftige Begegnungen lassen sich nur kompensieren, aber nicht ersetzen." Musiktherapeutin Voss sieht es ähnlich: "Zu sich selbst finden und gleichzeitig mit anderen verbunden sein - das kann nur Musik."


Quelle:
KNA