WHO-Direktorin über Lehren und Maßnahmen in der Corona-Pandemie

"Kluft zwischen Arm und Reich wird weiter auseinandergehen"

Maria Neira ist Direktorin für öffentliche Gesundheit bei der Weltgesundheitsorganisation. Im Interview spricht sie über die Suche nach einem Corona-Impfstoff und die Rolle der Religionsgemeinschaften im Kampf gegen die Pandemie.

Symbolbild Armut und Reichtum / © N.Pipat (shutterstock)
Symbolbild Armut und Reichtum / © N.Pipat ( shutterstock )

KNA: Weltweit 5,8 Millionen Corona-Infektionen und mehr als 360.000 Todesopfer. Wann kann die Pandemie gestoppt werden?

Maria Neira (Direktorin für öffentliche Gesundheit bei der Weltgesundheitsorganisation/WHO): Es haben sich erst sechs Prozent der Weltbevölkerung angesteckt. Ohne einen Impfstoff müssten sich aber bis zu 70 Prozent infizieren, damit die Pandemie von selbst endet. Alles hängt also davon ab, wie schnell wir einen Impfstoff finden.

KNA: Bis wann rechnen Sie damit?

Neira: In 11 bis 17 Monaten dürften wir über einen sicheren und effektiven Impfstoff verfügen. Und noch früher über ein Medikament zur Behandlung von Covid-19, womit wir auch die hohe Sterblichkeitsrate reduzieren können.

KNA: Wird es eine gerechte globale Verteilung des Impfstoffs geben?

Neira: Ja! Natürlich gibt es wirtschaftliche Interessen, und reiche Länder werden für den Impfstoff bezahlen müssen. Für arme Länder, die das nicht können, richten wir aber Mechanismen und Subventionen ein, damit alle Zugang haben. Um unsere Ressourcen im Kampf gegen das Virus zu vereinen, hat die Weltgesundheitsorganisation zusammen mit der EU, vielen anderen Staaten und Organisationen wie der Bill-and-Melinda-Gates-Stiftung das Projekt "ACT Accelerator" mit einem Budget von 7,5 Milliarden Euro ins Leben gerufen. Eine globale Initiative, um gemeinsam Medikamente, Tests und Impfstoffe gegen Covid-19 zu finden und diese allen Ländern zur Verfügung zu stellen.

KNA: Wie solidarisch hat sich die internationale Gemeinschaft bisher im Kampf gegen das Virus gezeigt?

Neira: Gerade zu Beginn fehlte es teilweise an dieser notwenigen internationalen Solidarität und Zusammenarbeit. Internationale Kooperation und Koordination hätten gerade innerhalb der EU zu mehr Effektivität bei der Anschaffung von Material führen sowie hohe Preise, Betrug und den Einkauf von defektem Material verhindern können. Das Virus hat uns auch gezeigt, wie schlecht unsere Gesundheitssysteme auf eine solche Pandemie vorbereitet waren.

KNA: Welche Schwächen brachte die Pandemie denn speziell in Europas öffentlichen Gesundheitssystemen ans Licht?

Neira: Anders als asiatische Länder haben wir in Europa teilweise die Fähigkeit verloren, auf Virus-Epidemien zu reagieren, weil wir sie glücklicherweise seit Jahrzehnten kaum erleiden mussten. Wir müssen wieder mehr in öffentliche Gesundheitssysteme investieren, um ausreichend Personal und besser ausgerüstete Krankenhäuser und Altenheime zu haben.

KNA: War Deutschland Ihrer Meinung nach gut gewappnet?

Neira: Deutschland hat im Vergleich zu anderen Ländern relativ wenige Opfer zu beklagen. Das liegt einerseits an der hohen Zahl an Intensivstationsplätzen. Andererseits hat die deutsche Regierung schnell und koordiniert reagiert. Auch befolgten Politik wie Bevölkerung sehr rigoros die Ratschläge der Experten. Das hat viel ausgemacht. Natürlich hatte man in Deutschland aber auch mehr Zeit als etwa in Italien, um Maßnahmen zu ergreifen.

KNA: In Afrika trifft die Pandemie auf sehr fragile Gesundheitssysteme.

Neira: Das stimmt. Bislang waren die gesundheitlichen Folgen der Corona-Pandemie dort aber noch nicht so groß. Das könnte verschiedene Gründe haben, wie die sehr junge Bevölkerung, eine geringere Bevölkerungsdichte als in Europa oder auch klimatische Bedingungen.

Dennoch dürften gerade in Afrika die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und der Ausgangssperren verheerend sein. Wir müssen von Ernährungsproblemen und einer deutlichen Zunahme von Armut ausgehen.

KNA: Die Lage in Lateinamerika dürfte ähnlich sein.

Neira: Während Europa zu Anfang wenig von China lernte, schaute Lateinamerika sehr wohl auf die Maßnahmen, die Europa ergriff - und die viele Länder wie beispielsweise Panama strikt übernommen haben.

Doch es gibt sehr große regionale Unterschiede. So ist Perus schwaches Gesundheitssystem überfordert. In Brasilien fehlt eine politische Strategie auf Landesebene, die die gesundheitlichen wie wirtschaftlichen Folgen eindämmen könnte. Vor allem in Lateinamerika wird mit der Corona-Krise die Kluft zwischen Arm und Reich weiter auseinandergehen.

KNA: Die wirtschaftlichen Folgen spüren wir auch in Europa.

Neira: Das ist wahr. Vor allem die Ärmsten bekommen die Folgen bereits zu spüren. Selbst hier in einer reichen Stadt wie Genf wachsen die Schlangen vor den Tafeln. Die Religionsgemeinschaften und karitativen Organisationen wie Caritas oder das Rote Kreuz spielen eine fundamentale Rolle im Kampf gegen die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie.

KNA: Das Corona-Krisenmanagement der WHO steht in der Kritik.

Neira: Das stimmt so nicht. Die meisten Länder unterstützen unsere Arbeit. Kritik kommt hauptsächlich aus den USA. Wir hoffen, US-Präsident Donald Trump noch mit Fakten von der wichtigen Rolle der WHO überzeugen zu können.

KNA: Warum ist die WHO überhaupt wichtig?

Neira: Wir koordinieren weltweite Gesundheitsstrategien, liefern den Staaten Material, wichtige Informationen und Ratschläge. Ohne die WHO würden derzeit Hunderte Labore weltweit nach einem Corona-Impfstoff forschen, ohne Informationen zu teilen oder Synergien zu bilden.

Deshalb sollte auch die WHO mit Blick auf die Zukunft gestärkt werden. Wir brauchen eine größere rechtliche Basis, um nicht nur Ratschläge geben zu können, sondern zu einem wirklichen Wächter der globalen Gesundheit zu werden. Das hat uns die Corona-Pandemie einmal mehr gezeigt.

KNA: Welche Lehren sollten wir aus der Corona-Krise ziehen, damit uns eine Virus-Epidemie nicht erneut derart überrollt?

Neira: Die Pandemie sollte uns zeigen, dass es wichtiger als je zuvor ist, mehr in die öffentlichen Gesundheitssysteme und in die Forschung zu investieren. Regelmäßiges Händewaschen, soziale Distanz und verstärkter Schutz für Altenheime sind bei einem Ausbruch einer neuen Epidemie nicht weniger wichtig, ebenso erhöhte Vorsicht und Kontrollmaßnahmen. Viele schauen auf eine mögliche zweite Welle - dabei haben wir in Europa noch nicht mal die erste Welle hinter uns gelassen.

Das Interview führte Manuel Meyer.


Quelle:
KNA