Theologe Peter Dabrock über ethische Fragen zur Corona-Krise

"Die Politik hat zu lange paternalistisch agiert"

An diesem Donnerstag kommt der neu zusammengesetzte Deutsche Ethikrat zusammen. Thema ist auch die Corona-Pandemie. Der ehemalige Vorsitzende Peter Dabrock kritisiert mangelnde Kommunikation der Politik.

Autor/in:
Corinna Buschow
Reagenzgläser im Labor / © Alex Traxel (shutterstock)

Evangelischer Pressedienst (epd): Der neu aufgestellte Ethikrat kommt in dieser Woche erstmals zusammen. Sie gehören dem Gremium nach den maximal möglichen zwei Amtsperioden nicht mehr an. Fällt der Abschied schwer, gerade jetzt, wo in der Gesellschaft so viele Abwägungen, auch ethische, in der Corona-Krise erfolgen müssen?

Peter Dabrock (Theologe und ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrats): Wenn man nach acht Jahren im Ethikrat und davon vier als Vorsitzender sagen würde, es wäre ein Leichtes zu gehen, dann hätte man in den acht Jahren wohl etwas falsch gemacht. Ich empfand das Amt als ganz besonderes Verantwortungsprivileg. Es ist aber sinnvoll, dass es Wechsel in Ämtern gibt. 

epd: Die letzte Stellungnahme, an der sie maßgeblich mitgewirkt haben, forderte früh Diskussionen über Ausstiegsszenarien aus dem Shutdown zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Wie zufrieden sind Sie mit dem politischen Management der Öffnungen seitdem?

Dabrock: Noch nie waren wir in der Geschichte der Bundesrepublik in solch einer sozialen Ausnahmesituation. Zur Ethik gehört daher auch die Fairness festzustellen, dass es den großen Masterplan nicht geben konnte. Dennoch - und das finde ich nicht beckmesserisch - kritisiere ich schon, dass es nach den ersten drei Wochen des faktischen Notstandes im Weiteren an angemessenem Kommunikations- und Teilhabemanagement gefehlt hat.

epd: Was meinen Sie damit?

Dabrock: Man hätte die Menschen im Land viel früher ermutigen sollen, bei der Bewältigung der Pandemie mitzudenken und mitzureden. Vermutlich hätte sich die jetzt bei Demonstrationen sichtbare Wut nicht in diesem Maße aufgestaut.

epd: Die Regierung ist also selbst Schuld an den Demos der Verschwörungstheoretiker?

Dabrock: In der Klammer des Gesagten: Ja. Die Politik hat zu lange paternalistisch agiert. Das war am Anfang - in der Zeit der Notsituation - legitim. Da musste schnell und effizient durchgegriffen werden. Die Regierung hätte dann aber viel schneller die Richtung wechseln müssen - hin zu einer Teilhabe der Bürger an den Lösungen. Sie müssen und können selbst zu Akteuren gemacht werden, denn niemand ist so sehr Experte für das eigene Leben wie man selbst.

Der damals gezogene Zusammenhang zwischen Öffnungsdebatten und Orgien war, auch mit Blick auf das, was noch vor uns liegt, falsch. Wir sind nach Phase 1 - dem Notstand - und Phase 2 - dem Einrichten in der neuen Ausnahmenormalität - in einer Art Phase 3: dem Leben mit dieser Situation. Das ist die anaerobe Phase der viel zitierten Marathon-Metapher. In der tut es besonders weh. Da braucht die Gesellschaft Debatten, um Depression, aber auch falsche Sorglosigkeit zu vermeiden.

epd: Sie selbst hatten die Prioritäten bei den Lockerungen kritisiert - Geschäfte statt Kita, Fußball statt Altenheim. Bleibt weiter Unzufriedenheit?

Dabrock: Ich empfinde weiter eine nicht angemessene Prioritätensetzung mit Blick auf Gerechtigkeit und Teilhabe von Kindern und Familien. Das zeigt sich doch schon daran, dass die Bundesfamilienministerin gar nicht Mitglied im kleinen Corona-Kabinett ist. Das sagt viel aus.

epd: Zu Beginn der Corona-Beschränkungen gab es Überlegungen, auf längere Sicht Ältere stärker zu isolieren, um für den Rest mehr Freiheit zuzulassen. Von der Politik wurde das abgelehnt mit Verweis auf eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Wurde die vermieden?

Dabrock: Noch zu Beginn der Einschränkungen gab es Erklärungen älterer Prominenter, darunter Friede Springer oder Wolfgang Huber, die sich bereit erklärten, in die Selbstisolation zu gehen. Sofort gab es in sozialen Netzwerken Lästereien darüber, dass es diesen bekannten, wohlhabenden Menschen ja leicht fallen würde. Es ist schade, dass die Idee damit diskreditiert und abgetan wurde. Vor wenigen Tagen tauchte dann eine Anzeige anderer älterer Prominenter, darunter Jürgen Habermas, auf. Darin wird der Sorge Ausdruck verliehen, dass das Leben älterer Menschen zunehmend als zweitrangig
angesehen wird. Offensichtlich ist die Stimmung gekippt.

Mir zeigt das: Wir müssen weg davon, über Fragen der Selbstdistanzierung von Menschen mit erhöhten Risiken gesellschaftlich so zu sprechen, dass sie von Angst und Zwang beherrscht sind. Vielmehr sollten sie von realistischer Freiwilligkeit und Solidarität geprägt sind sein - verbunden mit der Gewissheit, deswegen nicht ausgeschlossen zu werden. Das gilt nicht nur für Ältere, sondern auch für jüngere Risikopatienten, die über die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes nachdenken. Da müssen wir kreativer werden, möglicherweise sogar eine neue Sparte des Sozialstaats für die Nöte dieser Menschen entwickeln.

epd: Die Gefahr einer Zwei-Klassen-Gesellschaft sehen manche auch bei der Idee eines Immunitätsausweises. Wie sehen Sie das?

Dabrock: Ich muss gestehen, dass ich da moralisch hin- und hergerissen war. Auf den ersten Blick fand ich es gut, dass all diejenigen, die das Virus durchgemacht haben, sich mit einem solchen Dokument normal und frei bewegen dürfen. Auf den zweiten Blick ist es aber komplizierter: Zunächst wissen wir gar nicht, ob und wie lange die Immunität beim Coronavirus trägt und ob damit ein solcher Ausweis überhaupt seinen Zweck erfüllt. Dann muss man damit rechnen, dass sich insbesondere Jüngere bewusst anstecken wollen, um auch in den Genuss dieser Freiheiten zu kommen. Dann droht aber nicht nur für das Individuum, sondern bei einem größeren Ausmaß von Infektionen für die ganze Gesellschaft ein Riesenproblem. Sehr schnell könnten die Kapazitäten im Gesundheitswesen knapp werden. Die Folge wären fürchterliche Triageszenarien.

Hinzu kommt die Gefahr der Entsolidarisierung und der Diskriminierung. Deshalb spricht derzeit ethisch mehr gegen die Einführung dieses Ausweises, obwohl ich nicht weiß, wie es ein Verfassungsgericht beurteilen würde. Etwas anderes ist aber schließlich der Gesundheitsbereich: Ein Immunitätsausweis für Krankenhauspersonal könnte helfen, Testkapazitäten, die immer noch knapp sind, nicht unnötig zu verbrauchen. 

epd: Wäre die versprochene App hilfreicher?

Dabrock: Was heißt hilfreicher - sie ist ergänzend zu verstehen - und sie sollte vor allem endlich kommen! Die Wartezeit missbrauchen manche Politiker, den Nutzen der App schon vor der Einführung in Zweifel zu ziehen. Ich halte das gerade in der jetzigen Stimmungslage für massiv unverantwortlich, denn es fördert grundlos Verunsicherungen. Es ist doch klar, dass die App nur dann erfolgreich sein wird, wenn möglichst viele sie nutzen.

epd: Bei der Masern-Impfpflicht war der Ethikrat skeptisch - ist Corona etwas anderes?

Dabrock: Bei Masern hat sich der Ethikrat gegen eine Impfpflicht ausgesprochen, weil nur ganz wenige Prozentpunkte gefehlt haben, um den Gemeinschaftsschutz zu erreichen. Zwang hätte aus unserer damaligen Sicht mehr Schaden als Gewinn gebracht. Bei Corona braucht es - nach heutigem Wissensstand - eine nicht ganz so hohe Zahl durch Krankheit oder Impfung Immunisierter wie bei Masern. Deshalb sollte man bis zum Erweis des Gegenteils auf Freiwilligkeit setzen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich hinreichend viele Menschen impfen lassen würden. 

epd: Wird es für den neuen Ethikrat auch andere Themen als Corona geben? 

Dabrock: Ich kann zumindest sagen, dass es beim Abschlussgespräch des letzten Vorstandes mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) und Vertretern von Regierung und Fraktionen die einhellige Auffassung gab, dass in der nächsten Ratsperiode auch das Parlament dem Ethikrat Themen vorschlägt. Was das sein wird, ist Sache des neuen Ethikrats und des Bundestags. 


Peter Dabrock / © Reiner Zensen (Deutscher Ethikrat)
Quelle:
epd