Tafel-Schließungen verschärfen Armutsproblematik

"Nun müssen wir den Brotkorb noch höher hängen"

Nicht alle haben ihr täglich’ Brot. Viele arme, vor allem ältere Menschen sind darauf angewiesen, dass sie Lebensmittel, die sie sich nicht leisten können, über die Tafel bekommen. Was aber, wenn das Corona-Virus auch diesem Dienst ein Ende setzt?

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Die älteste Mitarbeiterin der Bensberger Tafel ist Grete Dresbach mit 82 Jahren. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die älteste Mitarbeiterin der Bensberger Tafel ist Grete Dresbach mit 82 Jahren. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Mira Keller* ist verzweifelt. Seit Jahren verlässt sich die Hartz IV-Empfängerin darauf, dass ein Großteil des wöchentlichen Lebensmittelbedarfs für ihre fünfköpfige Familie von der Tafel kommt und das den Haushalt enorm entlastet. Obst, Gemüse, Brot und auch mal ein Hefeteilchen für die Kinder oder Jughurts und eine Tafel Schokolade sind dann drin, was – müsste sie selbst dafür aufkommen – in der Regel ganz schön ins Geld geht. "Ich bin auf die Tafel angewiesen, sonst würde ich nicht über die Runden kommen", sagt die 42-Jährige. Auch so sei es schon hart genug, nie genug zum Leben zu haben und bei der Ernährung überall Abstriche machen zu müssen. Aber ohne Unterstützung sei sie geradezu aufgeschmissen.

Mira Keller hat nie einen Beruf erlernt. Die Kinder seien eben recht früh dazwischen gekommen, und dann gleich drei hintereinander, erklärt sie. "Das war eigentlich damals auch ganz schön. Denn da hatte mein Mann noch Arbeit." Heute seien sie aber beide erwerbslos, mittlerweile auch getrennt lebend und sie daher alleinerziehend. Mit der Lungenkrankheit COPD und der zusätzlichen Diagnose Osteoporose, vor allem aber auch wegen der Kinder hat sie kaum Aussicht, an ihrer prekären Situation absehbar etwas ändern zu können. Beispielsweise um noch einmal etwas Neues anzufangen. Altenpflegehelferin – das würde ihr gefallen, sagt sie, auch weil dieser Job eine überschaubare Ausbildungszeit habe. Aber realistisch sei das im Moment nicht. Immer stünde sie unter Beobachtung des Jugendamtes, ob sie überhaupt angesichts der krankheitsbedingten Herausforderungen angemessen für ihre Kinder sorgen könne.

Freude über Lebensmittel, die Luxus bedeuten

Auch Hedwig Meyer* rechnet jede Woche fest mit einer vollgepackten Tüte, die ihr die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Vereins Bergisch Gladbacher Tafel e. V. vor die Türe stellen. Die weiten Wege bis in die Reginharstraße in Bensberg, wo der Verein neben der Kalkstraße in Gladbach-City seit 2011 einen zusätzlichen Standort unterhält, kann die 78-Jährige nämlich nicht mehr schaffen. "Ich habe mir das gleich einmal durchgerechnet", sagt sie. "Bis zu 40 Euro monatlich muss ich mehr aufbringen, wenn die Tafel wegfällt. Das trifft mich schon hart bei insgesamt 250 Euro, die mir nach allen Abzügen von der Grundsicherung zum Leben noch bleiben." Außerdem seien auch immer mal Lebensmittel mit dabei gewesen, die sie selbst als absoluten Luxus betrachte, über die sie sich aber stets gefreut habe, zumal sie sich das, was über das Lebensnotwendige hinausgehe, keinesfalls leisten könne.

Nun verschärfe das Corona-Virus ihre Situation noch einmal drastisch. Auch weil Hedwig Meyer mit einer großen Lungen-OP im vergangenen Jahr zur absoluten Risikogruppe gehört, von der jede Infektionsgefahr so gut wie möglich ferngehalten werden muss. "Selber einkaufen gehen bei der momentanen Lage ist für mich daher zum Spießrutenlaufen geworden." Das alles sei sehr traurig. Trotzdem habe sie großes Verständnis dafür, dass wichtige Vorkehrungsmaßnahmen seitens der Tafel getroffen würden, um die eigenen Mitarbeiter zu schützen.

Ohne die Tafel fallen erhebliche Mehrkosten an

"Der Tagesbedarf von wenigstens drei Tagen fällt jetzt für uns weg", berichtet Erhard Kassner* niedergeschlagen. Auch der 64-Jährige und seine Frau sind daran gewöhnt, bei der wöchentlichen Budgetplanung durch die Tafel entlastet zu werden. "Nun geht es um erhebliche Mehrkosten, die wir einfach nicht haben." Wenn Donnerstag die Tüte vor der Tür gestanden habe – beide sind kaum in der Lage, noch selbst aus dem Haus zu gehen und schweres Gepäck zu schleppen – habe der Vorrat bei bescheidenem Verbrauch manchmal sogar für eine ganze Woche gereicht. "Wir haben immer alles verwertet und am Ende selbst letzte Gemüsereste noch in einen Eintopf geworfen und diesen dann für später eingefroren." Sie machten sich ernsthaft Gedanken, wie sie die Zeit ohne Tafel überbrücken sollten. "Nun müssen wir den Brotkorb noch höher hängen."

Dass viele Kunden von der momentanen Schließung der Bergisch Gladbacher Tafel hart getroffen sind, weiß auch Markus Kerckhoff, zweiter Vorsitzender des Vereins Bergisch Gladbacher Tafel e. V. "Mit der vorübergehenden Betriebsunterbrechung reagieren wir gezwungenermaßen auf die aktuelle Situation", begründet er diesen notwendigen Schritt. "Wir haben Verantwortung für unsere insgesamt 130 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von denen 80 Prozent der Risikogruppe der über 70-Jährigen angehören, und müssen sie schützen." Das habe im Moment Priorität. Sobald die Rahmenbedingungen es aber wieder zuließen – die Schließung gelte erst einmal bis zum 19. April – würde auch die Tafel ihren Dienst wieder aufnehmen. Bis dahin seien Nachbarschaftshilfe und andere kreativen Ideen gefragt, um bedürftige Menschen ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. Denn Ware gebe es eigentlich genug. Trotz Hamsterkäufen hier und da seien die Mengen gegenwärtig nicht das Hauptproblem.

Die abzugebende Ware wird sorgfältig begutachtet

5.310 Haushalte mit insgesamt 10.776 Personen haben in der Kreisstadt mit über 110.000 Einwohnern einen Berechtigungsschein für die Tafel. Jede Wochen werden durchschnittlich 316 Haushalte mit 894 Personen, von denen 43 Prozent Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind, mit Lebensmitteln versorgt. Diese werden von 45 Geschäften und einem Lebensmittelhersteller gespendet. Dafür sind Mitarbeiter wie Barbara Wäsche, die von Anfang an mit dabei ist, an jedem Wochentag unterwegs, um Lebensmittel bei Aldi, Lidl, Netto, Edeka oder Rewe abzuholen. Viele, vor allem Frischeprodukte seien dann oft an der Grenze des Mindesthaltbarkeitsdatums, genauso viele aber auch ohne baldiges Verfallsdatum, erklärt sie. Daher werde alles sorgfältig begutachtet und vor der Abgabe an den Kunden sortiert. Denn natürlich soll auch Salat noch appetitlich aussehen, wenn er bei einer jungen Mutter von zwei kleinen Kindern in den Korb geht. Und für diejenigen, die zuhause auf eine Belieferung warten, packt sie vorab Tüten, zumal diese seit Neuestem auch mit einem Fahrdienst an Ort und Stelle gebracht werden.

Zielgerichtet auswählen, damit nichts im Müll landet

Eine Stunde vorher – bei gutem Wetter sogar zwei – stellen sich die Menschen mit ihrem Nachweiskarten, die sie berechtigen, über die Tafel einkaufen zu können, vor der Glastür der Ausgabe in Warteschlangen auf. Wenn es dann losgeht, werden immer nur zwei bis drei zeitgleich eingelassen. Eddi Stoffel und Michael Rüthers, zuständig für die Verwaltung, haben das im Griff. Schließlich soll es geordnet zugehen und jeder in Ruhe aussuchen dürfen, was er braucht. Zielgerichtet wählen lassen, damit nachher auch nichts im Müll landet, ist allen Tafel-Mitarbeitern ganz wichtig.

"Man kennt sich längst untereinander. Manche kommen ja über lange Zeiträume, weil sich ihre Situation einfach nicht verbessert", erklärt Gabriele Kasper, die stellvertretende Leiterin der Tafel in Bensberg. "Wir kennen ihre Geschichten und die Hintergründe, respektieren aber auch, dass ‚Einkaufen’ bei der Tafel für die meisten selbst nach Jahren immer noch mit Scham besetzt ist." Da gebe es die Langzeitarbeitslosen und Hartz IV-Empfänger ebenso wie die vielen kinderreichen Familien mit und ohne Migrationshintergrund, die Studenten, bei denen das BAföG nicht reiche, und die "Aufstocker", die zwar arbeiten gingen, aber bei denen das Geld dennoch vorne und hinten nicht reiche. Wichtig für den Lebensmittelbezug ist, dass ihnen das vom Sozialamt oder Jobcenter bescheinigt wird oder sie ihren Rentenbescheid bei der entsprechenden Behörde vorlegen.

"Für Großfamilien ist die Tafel eine existenzielle Frage"

"Wir haben viele Menschen in echter Not – darunter auch welche, denen man ihre Armut auf den ersten Blick gar nicht ansieht, weil sie sie gut verbergen", stellt Gabriele Kasper fest, die sich da gut hineindenken kann. Sie bringt viel Empathie für diese Menschen mit. Schließlich war die 69-Jährige selbst einmal vorübergehend Hartz IV-Empfängerin, als ihr Arbeitsgeber Insolvenz anmeldete und sie kurz vor ihrem 60. Lebensjahr nicht wusste, wie es für sie weitergehen würde. "Ich kenne eine siebenköpfige Familie, die mit blankem Entsetzen auf die Nachricht der Betriebsunterbrechung bei der Tafel reagiert hat. Für die ist das wirklich eine existenzielle Frage."

Aber auch für viele andere Tafel-Kunden bedeutet der wöchentliche Termin innerhalb des Bensberger Wohnparks, der früher "Klein-Manhattan" genannt wurde und in dem 1500 Menschen leben, mehr als nur eine Lebensmittelausgabe. "Die Tafel ist vor allem auch ein sozialer Treffpunkt, weil Armut zusätzlich einsam macht", sagt Kasper. Da werde auch schon mal geweint. "Dann hören wir zu und trösten. Dass alle in einer vergleichbaren Situation sind, schafft Solidarität."

Jedem ein Stück Würde zurückgeben

Anni Müller und ihr Mann Helmut, die zu den Initiatoren der Bensberger Tafel gehören, kommen aus einem jahrzehntelangen caritativen Engagement ihrer Kirchengemeinde St. Nikolaus. "Menschliches Zusammenleben – auch in allen Krisensituationen, das lag mir immer schon am Herzen", sagt die Mittsiebzigerin. "Daher pflegen wir hier auch eine gute Gemeinschaft – unter den Mitarbeitern, aber auch mit unseren Kunden. Hier wird keiner zurückgestellt, alle sind wichtig. Auch die, die mehr noch als Brot und Nudeln ein aufmunterndes Wort brauchen." Und Mitarbeiterin Christa Koch ergänzt: "Wir wollen den Menschen, die zur Tafel kommen, ein gutes Gefühl vermitteln." Es müsste in der Gesellschaft viel normaler sein, bei Not nicht wegzuschauen. "Für uns ist das, was wir hier tun, selbstverständlich. Mit unserem Dienst wollen wir jedem – gerade auch angesichts der spürbaren Scham – ein Stück seiner Würde zurückgeben."

*Diese Namen wurden von der Redaktion geändert.


Im Wohnpark Bensberg haben viele Tafel-Kunden einen Migrationshintergrund. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Im Wohnpark Bensberg haben viele Tafel-Kunden einen Migrationshintergrund. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Überwiegend Rentner, die in der Corona-Krise besonderen Schutz brauchen, arbeiten als freiwillige Helfer bei der Tafel mit. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Überwiegend Rentner, die in der Corona-Krise besonderen Schutz brauchen, arbeiten als freiwillige Helfer bei der Tafel mit. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Für die Verwaltung und Kontrolle der Berechtigungsscheine sind Eddi Stoffel und Michael Rüthers zuständig. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Für die Verwaltung und Kontrolle der Berechtigungsscheine sind Eddi Stoffel und Michael Rüthers zuständig. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

"Wir geben diesen Menschen ein Stück Würde zurück", sagt Tafel-Helferin Christa Koch (Mitte). / © Beatrice Tomasetti (DR)
"Wir geben diesen Menschen ein Stück Würde zurück", sagt Tafel-Helferin Christa Koch (Mitte). / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Zu den Tafelkunden gehören über 40 Prozent Kinder und Jugendliche. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Zu den Tafelkunden gehören über 40 Prozent Kinder und Jugendliche. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

So sieht es in der Regel bei der Bergisch Gladbacher Tafel aus, wenn die Supermärkte ihr Gemüse abgeben. / © Beatrice Tomasetti (DR)
So sieht es in der Regel bei der Bergisch Gladbacher Tafel aus, wenn die Supermärkte ihr Gemüse abgeben. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Eddi Stoffel im Gespräch mit Mitarbeiterinnen des rund 20-köpfigen Bensberger Teams. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Eddi Stoffel im Gespräch mit Mitarbeiterinnen des rund 20-köpfigen Bensberger Teams. / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR