Misereor-Geschäftsführer unterwegs im Nordirak

"Manche Debatte in Deutschland ist beschämend"

Misereor-Geschäftsführer Bröckelmann-Simon und Bundesentwicklungsminister Müller fordern nach einer gemeinsamen Reise in den Nordirak mehr Unterstützung. Im domradio.de-Interview zeigte sich Bröckelmann-Simon bestürzt über die aktuelle Situation.

Flüchtlingskind aus Syrien  (dpa)
Flüchtlingskind aus Syrien / ( dpa )

domradio.de: Sie waren mit dem Bundesentwicklungsminister Gerd Müller im Nordirak unterwegs, wie ist die Situation zurzeit im Nordirak?

Misereor-Geschäftsführer Martin Bröckelmann-Simon: Ich war zuletzt vor einem halben Jahr da und im Vergleich dazu ist die Situation deutlich angespannter. In Erbil haben die IS-Gruppen 20km vor der Stadtgrenze gestanden und dieser Druck, diese Angst, ist natürlich immer noch da. Wenn man mit dem Bundesminister unterwegs ist, herrscht sowieso Sicherheitsstufe 1. Die Sicherheitsmaßnahmen sind extrem hoch gewesen. Ich war allerdings schon vor dem Minister einige Tage da und habe mich da relativ frei bewegen können, aber immer in Begleitung von Partnern. Ich würde es nicht wagen, mich ganz alleine im Stadtbild zu bewegen.

domradio.de: Das heißt, die Gefahr ist immer spürbar?

Bröckelmann-Simon: Ja, man spürt die Gefahr, man spürt die Angst. Viele Ausländer haben Nordirak verlassen. In Erbil ist der Anteil der Ausländer deutlich geringer als eben noch vor einem halben Jahr, als diese ganze Gefahr noch nicht da war. Der Druck auf der Stadt ist insgesamt groß.

domradio.de: Die Flüchtlingsströme sind immer schwieriger zu bewältigen und der Druck auf die Nachbarländer wird immer größer. Wie haben Sie das erlebt?

Bröckelmann-Simon: Der Druck ist enorm hoch auf Kurdistan, das muss man ganz deutlich sagen. Eigentlich ist die Region schon jenseits der Belastungsgrenze. Das wurde uns auch von allen hochoffiziellen Gesprächspartnern, vom Premierminister über den Planungsminister bis zum Gesundheitsminister, immer wieder gesagt: Wir können nicht mehr. Insgesamt leben jetzt in Kurdistan mit ursprünglich fünf Millionen Menschen ungefähr zusätzlich 1,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene. Es waren vorher ja auch schon die syrischen Flüchtlinge da und das macht deutlich, dass ein Bevölkerungszusatz von fast 30 Prozent innerhalb weniger Monate auch nicht einfach so verkraftet und weggesteckt werden kann.

Dennoch habe ich viele Beispiele für Solidarität und Hilfsbereitschaft auch gesehen. Wir waren im Distrikt Kawergosk, da leben normalerweise 120.000 Menschen, jetzt sind dort zwei Flüchtlingslager für syrische Flüchtlinge und die Binnenvertriebenen, insgesamt 75.000 Menschen. Das Zusammenleben mit diesen vielen Flüchtlingen ist dennoch friedlich, es gibt sehr viel Hilfsbereitschaft. Das können wir uns hier vielleicht nicht so vorstellen, aber trotz des Drucks, die Schulen sind voll mit Flüchtlingen und die Kinder können nicht zur Schule gehen, die kurdischen Kinder. Dennoch gibt es sehr viel Unterstützung und Freundlichkeit gegenüber den Vertriebenen und Flüchtlingen.

domradio.de: Kann man die Vertriebenen und Flüchtlinge überhaupt versorgen?

Bröckelmann-Simon: Man tut was man kann. Es geschieht wirklich nur das Allernotwendigste und das große Problem ist jetzt der drohende Winter. Es werden mindestens 26 Lager gebraucht, für diejenigen, die jetzt noch in Zelten hausen. Von diesen Lagern sind aber erst acht fertig. Eigentlich müssten es auch deutlich mehr sein und ich habe auch die verschiedenen christlichen Konfessionen besucht, bin bei den Bischöfen dort gewesen, um die Kirchen herum viele, viele Menschen in Zelten auf dem nackten Boden. Es fehlt am Allernotwendigsten und das, was wir jetzt auch von Misereor unterstützen, ist eben der Bau von Winterquartieren, von Wohncontainern, von Klassenräumen, damit die Kinder zur Schule gehen können und Gesundheitseinrichtungen, damit zumindest eine minimale medizinische  Versorgung der Flüchtlinge gewährleistet ist.

domradio.de: Sie waren gemeinsam mit dem  Bundesentwicklungsminister in Erbil vor Ort und auch in der Region. Was kann, was muss Deutschland denn noch mehr tun?

Bröckelmann-Simon: Deutschland muss und laut Entwicklungsminister Müller wird es das auch tun, seine humanitäre Hilfe verstärken, es wird Sondermittel geben, insbesondere um die Winterquartiere zu schaffen und die Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Auch wir werden, so hat er uns versprochen, dabei besonders unterstützt. Aber Deutschland muss sich auch, das hat auch Minister Müller mehrmals auf der Reise gesagt, darauf einstellen, dass auch wir unseren Anteil in der Aufnahme von Flüchtlingen leisten und erhöhen müssen.

Wenn wir das vergleichen, was die Kurden, aber auch die Türken, die Libanesen, die Jordanier, in der Region schon alles an Flüchtlingszustrom verkraftet haben und wie stark sie sich dort engagieren, da ist manche Debatte, die hier in Deutschland geführt wird, beschämend. Wir müssen deutlich mehr Bereitschaft zeigen, auch denjenigen, die in der Region nicht bleiben können, eine Zuflucht zu gewähren. Wir Hilfsorganisationen tun, was wir können, um den Menschen einen Verbleib in der Region zu ermöglichen. Aber wir werden es nicht verhindern können, dass dennoch Menschen ihre Zukunft auch woanders suchen, weil die Lebensverhältnisse wirklich unerträglich sind.

domradio.de: Hatten Sie den Eindruck, den Worten von Minister Müller kann man Glauben schenken, dass die Bundesregierung wirklich dazu bereit ist, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?

Bröckelmann-Simon: Minister Müller sicher, weil mit ihm habe ich gesprochen, mit den anderen Mitgliedern der Bundesregierung habe ich nicht gesprochen. Bundesentwicklungsminister Müller hat sich deutlich in diese Richtung geäußert und wird sich dafür auch einsetzen. Er war sichtlich betroffen von den Gesprächen, die er führen konnte, auch sehr persönliche Gespräche über die Gewalterfahrungen und die Traumatisierungen, mit denen viele dieser Menschen jetzt zu kämpfen haben. Er hat sich deutlich überzeugt und entschlossen gezeigt, sich hier auch innerhalb de Kabinetts auch einzusetzen. Ob er sich gegenüber den anderen Ressortkollegen durchsetzen kann, das kann ich natürlich auch nicht beurteilen. Aber für sein Ressort gilt sicher, dass die Syrien- und Irakhilfen weiter verstärkt werden.

domradio.de: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Matthias Friebe.