Keine Sorgenkinder mehr

Aktion Mensch wird 50 Jahre alt

Ob im Kino, beim Wohnen, in der Schule oder am Arbeitsplatz - ein selbstverständliches Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung ist noch lange nicht an der Tagesordnung. Vor 50 Jahren startete die "Aktion Sorgenkind", um das zu verändern.

50 Jahre Aktion Mensch  (dpa)
50 Jahre Aktion Mensch / ( dpa )

Helfen und gewinnen lautet die Devise. 4,6 Millionen Bundesbürger spielen in diesem Jahr bei der Soziallotterie für die "Aktion Mensch" mit. 132 Millionen Euro hat die vom ZDF unterstützte Lotterie 2013 an 2,1 Millionen Gewinner ausgeschüttet. Zugleich hat die in Bonn ansässige "Aktion Mensch" in den vergangenen fünf Jahrzehnten rund 3,5 Milliarden Euro Fördergelder für soziale Projekte eingeworben. Am 9. Oktober feiert die frühere "Aktion Sorgenkind" ihren 50. Geburtstag.

Beim einem Festakt zum 50-jährigen Bestehen der Hilfsorganisation "Aktion Mensch" am Dienstag in Berlin erklärte Bundespräsident Joachim Gauck, die sogenannte Inklusion sei eine enorme Herausforderung, aber keine Utopie. "Die Größe der Aufgabe darf uns nicht den Blick für ihre Bedeutung verstellen", sagte der Bundespräsident laut vorab verbreitetem Redemanuskript. Gauck würdigte zugleich das Engagement von "Aktion Mensch". Ihre Geschichte beweise, "dass Veränderungen im Kleinen wie im Großen gelingen können".

Ziele der Inklusion nicht zerreden

Gauck verwies darauf, dass vollständige Inklusion nicht von heute auf morgen erreicht werden könne. Deshalb dürfe aber das Ziel als solches nicht zerredet werden. "Inklusion kann nur gelingen, wenn wir die Hürden offen ansprechen, wenn nötige Kritik hörbar wird." Als Beispiel nannte der Bundespräsident die Diskussion über Inklusion in der Schule. Gerade weil der Aufwand für inklusiven Unterricht hoch sei, müsse es eine breite öffentliche Debatte darüber geben, welche Ressourcen nötig sind und woher das nötige Geld kommen soll. Laut Kultusministerkonferenz nimmt etwa jeder vierte Schüler mit besonderem Förderbedarf (28 Prozent) am Unterricht in der Regelschule teil.

"Wir sind die größte private Förderorganisation im sozialen Bereich und eine der erfolgreichsten sozialen Organisationen", demonstriert Vorstand Armin von Buttlar Selbstbewusstsein. Auch mit bundesweiten Aufklärungskampagnen und Aktionen macht sich die Initiative für behinderte Menschen stark.

Neue Vertriebswege für Aktion Mensch

Doch das Umfeld ist schwieriger geworden. Mit dem Internet hat der Wettbewerb der Lotterien stark zugenommen. Gleichzeitig fühlen sich die sozialen Fernsehlotterien durch die strengen Glücksspielgesetze gegängelt. Der Staat dürfe eine Soziallotterie nicht mit kommerziellen Glücksspielen gleichsetzen, kritisiert von Buttlar.

Gerade um junge Menschen zu binden, will die Aktion Mensch neue Vertriebswege nutzen. Denn die Los-Verkaufszahlen bei Banken, Sparkassen und Postwurf sind dramatisch gesunken. Daher will die Sozialaktion Losgutscheine auch an der Supermarktkasse verkaufen. Die Lotterieaufsicht untersagte das. Dagegen hat die Aktion Mensch geklagt und jüngst vor dem Mainzer Verwaltungsgericht einen Teilerfolg erzielt. Ein weiteres Urteil zum Online-Vertrieb steht allerdings noch aus.

Auslöser Contergan

Inhaltlich setzt die Aktion Mensch unter dem Jubiläumsmotto "Schon viel erreicht. Noch viel mehr vor" auf die Förderung von Projekten, die ein selbstbestimmtes Leben und eine Wahlfreiheit behinderter Menschen fördern. Und beruft sich dabei auf die UN-Behindertenkonvention, die 2009 in Deutschland in Kraft getreten ist. Konkret geht es etwa um den Aufbau ambulanter, in die Gemeinden integrierter Wohnangebote oder um Schulen und Kindergärten, in denen behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam lernen und spielen. 

Ins Leben gerufen wurde die Initiative 1964 als "Aktion Sorgenkind" von den sechs großen Wohlfahrtsverbänden und dem ZDF. Anlass war der größte Arzneimittel-Skandal der Bundesrepublik: Durch das Schlafmittel Contergan kamen von 1957 bis 1962 in Deutschland 5.000 missgebildete Kinder zu Welt. Zu Beginn ging es um einen fürsorglichen Ansatz: Behinderten Kindern sollte geholfen werden, indem beispielsweise Heime, Tagesstätten oder Fahrzeuge gefördert wurden.

Prävention als neue Aufgabe

Wesentlich zum Erfolg trug eine neuartige Verbindung von Fernseh-Unterhaltung und Wohltätigkeit bei: Seit 1964 moderierte Quizmaster Peter Frankenfeld die ZDF-Sendung "Vergissmeinnicht", die für die Lotterie warb. Auch die Nachfolge-Shows "3x9" und seit 1974 "Der Große Preis", moderiert von Wim Thoelke, machten die "Aktion Sorgenkind" zum Markenzeichen.

Ausgeweitet wurde das Förderspektrum: Seit den 70er Jahren wurden auch behinderte Erwachsene gefördert, dazu kamen Initiativen für die Eltern behinderter Kinder. Seit 1979 unterstützte die Aktion Sorgenkind auch "Hilfen zur Vorsorge und Früherkennung von Behinderungen". So warnte sie vor Röteln in der Schwangerschaft, sensibilisierte für kindliche Hör- und Sehbehinderungen. Sie geriet damit auch in die Auseinandersetzung um die Abtreibungsgesetzgebung.

Vom "Sorgenkind" zur "Aktion Mensch"

Spätestens seit den Integrationsbemühungen der 70er Jahre wollten Behinderte keine "Sorgenkinder" mehr sein. Die Umbenennung in "Aktion Mensch" im Jahr 2000 trug dem Rechnung: "Ich will kein Mitleid, ich will Respekt", so lautete die Devise. Ziel war ein Umgang auf Augenhöhe. Inklusion, also der selbstverständliche Umgang von Menschen mit und ohne Behinderung, wurde zum übergreifenden Thema.

"Man geht mittlerweile souveräner damit um, wenn ein Mensch eine Behinderung hat, und auch die behinderten Menschen gehen offensiver mit ihrer Situation um", zieht der neue Botschafter der Aktion Mensch, Rudi Cerne, Bilanz. "Andererseits gibt es sicherlich noch Nachholbedarf und Baustellen, auf die man Menschen aufmerksam machen sollte."


Quelle:
KNA , epd