Experte fordert mehr Engagement für benachteiligte Jugendliche

"Es passiert immer noch zu wenig"

Am Donnerstag geht in Stuttgart der 14. Deutsche Kinder- und Jugendhilfetag zu Ende. Im Interview ruft Stephan Hiller vom Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen zu mehr gesellschaftlichem Engagement zugunsten von Hartz-IV-Kindern und jungen Migranten auf.

 (DR)

KNA: Herr Hiller, immer wieder berichten Medien über Kinder aus verwahrlosten Familien, jugendliche Schläger und Heranwachsende ohne jede Chance auf dem Arbeitsmarkt. Ist das Panikmache oder Teil der gesellschaftlichen Realität?

Hiller: Einiges davon kann ich aus der Praxis bestätigen. Zwei Beispiele: Zum einen nimmt die Zahl der in stationären Einrichtungen betreuten kleinen Kinder deutlich zu. Zum anderen landen immer mehr junge Menschen in der Wohnungslosenhilfe.



KNA: Haben Sie dazu aktuelles Zahlenmaterial?

Hiller: Bei der Wohnungslosenhilfe lag der Altersschnitt der dort betreuten Menschen bundesweit lange Zeit bei 30 bis 35 Jahren. Jetzt berichten nicht nur unsere Anlaufstellen vermehrt von Jugendlichen ab 16 Jahren, die dort Hilfe suchen. Was die in Heimen betreuten Kinder und Jugendlichen anbelangt, verzeichnet das Statistische Bundesamt einen Anstieg bei den Neuaufnahmen von unter 6-Jährigen. Vor etwa zehn Jahren betrug deren Anteil noch knapp 6 Prozent. Inzwischen ist dieser Wert auf 9 Prozent gestiegen.



KNA: Woran liegt das?

Hiller: Viele dieser Kinder sind mit ambulanten Maßnahmen nicht mehr zu erreichen, weil sie aus zerrütteten Verhältnissen stammen. Die Eltern sind suchtgefährdet oder leiden unter psychischen Krankheiten. Und oft noch viel zu jung, um ihre Vater- oder Mutterrolle auszufüllen. Manche Migrantenfamilien haben hingegen große Schwierigkeiten, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. In der Folge gelten immer mehr Kinder als erziehungsschwierig, hinken in der motorischen und sprachlichen Entwicklung hinterher. Das heißt, der individuelle Betreuungsaufwand nimmt zu. Gleichzeitig reagiert die Gesellschaft sensibler auf Fälle von familiärer Gewalt und Verwahrlosung...



KNA: ... was immerhin ein positiver Trend wäre...

Hiller: ...wenn er mit einer steigenden Bereitschaft einherginge, solchen Kindern echte Alternativen zu einem längerem Heimaufenthalt zu bieten. Stattdessen haben wir wachsende Probleme, Pflegefamilien zu finden. Und professionelle Pflegestellen mit qualifiziertem Personal zu besetzen, wird angesichts des jetzt schon absehbaren Fachkräftemangels auch nicht leichter.



KNA: Was passiert mit den Kindern, wenn sie ins schulpflichtige Alter kommen?

Hiller: Immer noch zu wenig.



Interview: Joachim Heinz