Jürgen Lieser zieht Bilanz nach 30 Jahren Entwicklungsarbeit bei Caritas International

"Höhen und Tiefen erlebt"

Nach 30 Jahren bei Caritas International geht Jürgen Lieser in den Ruhestand. In dieser Zeit habe er "Höhen und Tiefen erlebt", zieht der scheidende stellvertretende Leiter der katholischen Hilfsorganisation im Interview mit domradio.de Bilanz - und verteidigt Entwicklungsarbeit gegen die Kritik einer "Mitleidsindustrie".

 (DR)

domradio.de: Hilfsgelder werden zu einer Kriegswaffe, sagen Kritiker wie Linda Polman, Autorin des Buchs "Die Mitleidsindustrie", durch Spendengelder werde Krieg verlängert und Leid vergrößert...

Lieser: Das ist in dieser allgemeinen Form sehr problematisch. Frau Polman  hat insofern Recht, dass es solche Missstände gibt; es gibt Missbrauch von Hilfe. Das wissen die Hilfsorganisationen auch. Das lässt sich nicht immer vermeiden. Wir versuchen zwar, Maßnahmen dagegen zu unternehmen. Aber natürlich wird Hilfe von beiden Konfliktseiten gerne dazu benutzt, um eigene politische Ziele durchzusetzen. Oder im schlimmsten Fall, um Kriege zu finanzieren und zu verlängern. Aber meine Kritik im Falle von Frau Polman ist, dass sie diesen Vorwurf sehr pauschal erhebt, nicht zwischen Hilfsorganisationen differenziert. Es gibt noch die Seite, dass Hilfe natürlich auch in vielen Fällen sehr viel Gutes bewirkt.



domradio.de: Was unternehmen Sie, um nicht zum Spielball der fürs Leid Zuständigen zu werden?

Lieser: Wir wählen unsere Partner in den Konfliktländern, in denen wir arbeiten, sorgfältig aus. Das sind bei Caritas International überwiegend kirchliche Partnerorganisationen, die die lokalen Verhältnisse sehr gut kennen und die damit auch ein Stück weit Gewähr für uns sind, dass kein Missbrauch passiert. Und dass die Hilfe tatsächlich bei den Bedürftigen ankommt. Die Gefahr ist größer, wenn man mit Regierungsorganisationen zusammenarbeitet, die Teil der politischen Interessenlage sind. Die Diskussion gibt es seit 20 Jahren unter dem Stichwort "Do no harm", also "Versuche mit Deiner Hilfe keinen Schaden anzurichten". In dieser Zeit haben wir Hilfsorganisationen viele Ideen dazu entwickelt. Wir haben zum Beispiel auch Maßnahmen gegen Korruption entwickelt. Es gibt also viele Initiativen - aber es wäre blauäugig zu sagen, dass es keinen Missbrauch gibt.



domradio.de: Die Deutschen spenden jährlich um die drei Milliarden Euro. Befürchten Sie, dass das weniger werden könnte?

Lieser: Das ist über die vergangenen Jahre konstant geblieben. Der Kuchen wird nicht größer, aber diejenigen, die um ihn konkurrieren. Das spüren wir auch. Aber das hilft ja nichts. Man muss den Spendern deutlich machen, dass ihr Geld gut eingesetzt wird, dass wir sorgfältig mit den Spenden umgehen, dass wir auch für Transparenz sorgen. Und wir scheuen auch nicht die Diskussion mit Kritikern wie Frau Pohlmann.



domradio.de: Frau Pohlmann kritisiert auch, dass es zu viele konkurrierende Hilfsorganisationen gibt...

Lieser: Das ist schon richtig, es gibt eine enorme Zunahme an Hilfsorganisationen in den vergangen Jahren. Und darunter sind auch viele schwarze Schafe. Aber zunächst mal ist die Tatsache, dass es ein vielfältiges Spektrum an Nichtregierungsorganisationen gibt, etwas Positives. Das repräsentiert ein Stück weit auch die Pluralität der Gesellschaft. Und tatsächlich belebt Vielfalt das Geschäft. Aber die schwarzen Schafe oder gut gemeinten NGOs, die aber sehr unprofessionell und manchmal auch naiv in eine Konfliktsituation reingehen und nicht merken, dass ihre Hilfe missbraucht, gibt es auch.



domradio.de: Sie gehen nach 30 Jahren in den Ruhestand; das Symposium wurde Ihnen zu Ehren abgehalten. Wie ist Ihre persönliche Bilanz nach 30 Jahren Katastrophenhilfe?

Lieser: Ich habe es als großes persönliches Glück erfahren, in diesem Beruf arbeiten zu dürfen, weil es am Ende darum geht, Menschen zu helfen. Es ist ein großes Privileg, einen solchen Beruf zu haben. Ich habe Höhen und Tiefen erlebt. Ich habe viele Projekte erlebt, die scheiterten und bei denen wir hilflos zuschauen mussten, obwohl wir gerne geholfen hätten, dass aber die Umstände nicht erlaubt haben. Aber insgesamt ist meine Bilanz positiv. Weil ich denke, dass es keine Alternative gibt. Humanitäre Hilfe ist ein Gebot der Menschlichkeit. Und ich hoffe, dass es auch in Zukunft möglich sein wird, trotz schwieriger werdender Umstände, trotz großer Konkurrenz unter den Hilfsorganisationen, weiterhin diese notwendige Hilfe zu leisten.



Das Gespräch führte Simone Bredel.