Kirche in Deutschland und die Missbrauchsaufarbeitung

"Es scheint etwas in der Luft zu liegen"

Die Missbrauchsaufarbeitung in der katholischen Kirche hat auch nach Ansicht von kritischen Stimmen an Fahrt aufgenommen. In der Entschädigungsfrage von Opfern sexuellen Missbrauchs wird ihr gar eine Vorbildrolle zugewiesen.

Missbrauchsaufarbeitung: "Es scheint etwas in der Luft zu liegen" / © f11photo (shutterstock)
Missbrauchsaufarbeitung: "Es scheint etwas in der Luft zu liegen" / © f11photo ( shutterstock )

Die ehemalige Ordensfrau Doris Reisinger erkennt Fortschritte in der Aufarbeitung von Missbrauch in der katholischen Kirche. "Es scheint etwas in der Luft zu liegen", schreibt die Theologin und Buchautorin in einem Gastbeitrag in der "Zeit"-Beilage "Christ & Welt" (Donnerstag).

Doris Reisinger (geb. Wagner) / © Lars Berg (KNA)
Doris Reisinger (geb. Wagner) / © Lars Berg ( KNA )

"Vielleicht werden die Zwanzigerjahre das Jahrzehnt der Frauen in der Kirche sein, das Jahrzehnt, in dem endlich ans Tageslicht kommt, welchen Übergriffen Frauen in ihr oft ausgesetzt waren und sind", so Reisinger.

Aktuell, so Reisinger, habe sie das Gefühl, dass eine Art Wendepunkt anstehe, was den Umgang mit der sexualisierten Gewalt gegen Frauen in der Kirche angehe. 

Sie telefoniere fast täglich mit Betroffenen, die oft von der Kirche jahrzehntelang nicht ernst genommen worden seien.

"Kirche vor den Tätern schützen"

"Das scheint sich zu ändern. Mehrere Betroffene erzählen, dass sie in der Ordensobernkonferenz neuerdings nicht nur angehört, sondern unterstützt werden", sagte Reisinger, die nach dem Abitur der geistlichen Bewegung "Das Werk" beitrat und 2011 gegen einen Mitbruder Anzeige wegen Vergewaltigung erstattete.

"Anscheinend haben einige Verantwortliche begriffen, dass man die Kirche vor den Tätern beschützen muss, nicht vor den Opfern." Auch wenn die kirchlichen Verantwortungsträger jahrzehntelang geschwiegen hätten, sei nun sehr langsam ein Prozess in Gang gekommen, der Hoffnung mache. 

Gleichwohl forderte Reisinger: "Ohne eine vollständige Gleichberechtigung von Frauen in den Kirchen wird es kein Ende der Gewalt gegen Frauen geben." Erfreulich sei, dass neben der Frauenprotestbewegung Maria 2.0 mittlerweile auch die großen katholischen Frauenverbände ausdrücklich die volle Gleichberechtigung von Frauen in der katholischen Kirche forderten, "inklusive Zugang zu allen Ämtern".

Kirche soll bei Missbrauchsentschädigung vorangehen

Jörg Ziercke / © Peter Zschunke (dpa)
Jörg Ziercke / © Peter Zschunke ( dpa )

Unterdessen sieht der Vorsitzende der Opferhilfsorganisation Weißer Ring, Jörg Ziercke, die katholische Kirche in einer Vorbildrolle bei der Entschädigung von Missbrauchsopfern. 

Mit ihren Vorschlägen für etwaige Zahlungen eröffne sie "die einmalige Chance" voranzugehen. 

Und weiter: "und damit den Druck zu erhöhen, dass auch andere Bereiche der Gesellschaft sich um solche Lösungen zu kümmern haben", sagte er den Zeitungen der Verlagsgruppe Bistumspresse (Sonntag) in Osnabrück. 

Auf eine gesellschaftlich einheitliche Lösung solle sie nicht warten. "Die hohen moralischen Ansprüche, die die katholische Kirche vertritt, verbieten jeglichen Vergleich mit anderen Institutionen", so Ziercke.

Diskussion um Entschädigung von Betroffenen

Derzeit diskutieren die katholischen Bischöfe in Deutschland ein neues Verfahren für Entschädigungszahlungen an Betroffene von sexuellem Missbrauch durch Geistliche. Eine Arbeitsgruppe schlug im September zwei Modelle vor: eine Pauschale von rund 300.000 Euro pro Opfer oder ein abgestuftes Verfahren, bei dem je nach Schwere des Falls zwischen 40.000 und 400.000 Euro gezahlt werden könnte. Unklar ist die Finanzierung.

"Eine Entschädigung von 400.000 Euro wäre angemessener", sagte Ziercke und begründete seine Einschätzung mit einem Vergleich. Nach dem neuen Sozialen Entschädigungsrecht erhielten Opfer mit einem Entschädigungsgrad von 30 bis 40 eine monatliche Rente in Höhe von 400 Euro. 

Dieser unterste Grad werde in Fällen sexuellen Missbrauchs an Kindern überschritten. Eine Summe von 300.000 Euro reiche rechnerisch für einen Zeitraum von 62,5 Jahren. "Da es aber um Kindesmissbrauch geht, also um einen Entschädigungseintritt in jungen Jahren, ist der Betrag sogar eher zu niedrig angesetzt", sagte Ziercke.

Chronik des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche

Januar 2010: Der Leiter des Canisius-Kollegs der Jesuiten in Berlin, Pater Klaus Mertes, macht durch einen Brief an ehemalige Schüler den Missbrauchsskandal an seiner Schule bekannt. Jesuiten hätten in den 1970er und 80er Jahren Schüler sexuell missbraucht. Er löst damit eine Welle von Enthüllungen zu Missbrauchsfällen in der Kirche, aber auch in Schulen und anderen Institutionen aus.

Canisius-Kolleg in Berlin / © Christoph Scholz (KNA)
Canisius-Kolleg in Berlin / © Christoph Scholz ( KNA )
Quelle:
KNA