Hamburger Alterzbischof Thissen wird 80

Mit Humor, Gelassenheit und Gottvertrauen

Geboren im niederrheinischen Kleve, lebt er als Emeritus weiterhin in Hamburg: der frühere Erzbischof Werner Thissen feiert an diesem Montag seinen 80. Geburtstag. Im Interview spricht er über seine Sicht auf die Kirche und die Treue zum HSV.

Werner Thissen, emeritierter Erzbischof von Hamburg / © Michael Althaus (KNA)
Werner Thissen, emeritierter Erzbischof von Hamburg / © Michael Althaus ( KNA )

KNA: Herr Erzbischof, trotz Ihres Ruhestands feiern Sie regelmäßig Gottesdienste und halten bundesweit Vorträge. Also eher ein Unruhestand?

Thissen: Auch der Ruhestand ist für mich eine erfüllende Lebensphase, die aber auch Herausforderungen birgt. Ich muss mir meinen Tag selbst strukturieren. Das wurde mir erleichtert, weil ich schon kurz nach meinem Rücktritt angefragt wurde, Exerzitien für Priester und Ordensleute in anderen Bistümern zu leiten. Mittlerweile hat sich das zu einer Art Zweitberuf entwickelt. Hinzu kommen zahlreiche seelsorglichen Gespräche mit Menschen hier im Erzbistum Hamburg.

KNA: Papst Franziskus ist inzwischen über fünf Jahre im Amt. Wie nehmen Sie die Weltkirche unter seiner Führung wahr?

Thissen: Ich hatte die Freude, Papst Franziskus persönlich in Rom besuchen zu können. Mir fiel gleich bei der ersten Begegnung auf, dass er ein Seelsorger ist. Im Gespräch ist er zugewandt, er schaut sein Gegenüber an und kommt nicht gleich mit den Dingen, die gemacht werden müssen, sondern hört erst einmal zu. Ähnlich ist auch der Stil seiner Amtsführung. Vor den beiden großen Bischofssynoden zu Ehe und Familie hat er zunächst Christen in aller Welt befragt, welche Themen ihnen am Herzen liegen.

KNA: Nichtsdestotrotz steht der Papst mittlerweile auch in der Kritik, etwa wegen ausbleibender Reformen, die sich manche erhofft hatten, oder wegen seines Umgangs mit Missbrauchsfällen. Wie beurteilen Sie das?

Thissen: Die Reformen, die Papst Franziskus für wichtig hält, sind in vollem Gange. Die wichtigste Reform, die er anstößt, ist meinem Eindruck nach ein anderer Umgang in der Kirche miteinander. Seine Art wird sich auf das Miteinander in der Kirche und auch mit anderen Religionen und Konfessionen sehr deutlich auswirken. Papst Franziskus ist kein Macher, sondern er ist einer, der etwas wachsen lässt. Manche Punkte, über die wir in Deutschland seit Jahrzehnten diskutieren, sieht Papst Franziskus, glaube ich, gar nicht als die großen Reformthemen an.

KNA: Die deutschen Bischöfe haben in diesem Jahr eine Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche veröffentlicht. Hat Sie das Ausmaß überrascht?

Thissen: Ja, das ist eine Katastrophe. Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, das Thema nicht zu verschweigen, sondern an die Aufarbeitung zu gehen. Als im Jahr 2010 viele Fälle bekanntwurden, war ich noch in der Bischofskonferenz. Damals haben wir sofort gesagt, dass wir das Thema anpacken müssen und haben das auch getan – zunächst in den einzelnen Bistümern. Im Erzbistum Hamburg haben wir eine Fachstelle für Kinder- und Jugendschutz eingerichtet und unsere Mitarbeiter geschult. Auch ich habe mich schulen lassen und sehr viel gelernt. Ich finde sehr gut, dass es die Studie gibt, weil sie uns bei der Bewältigung hilft. Klar ist aber auch: Die Studie selbst ist noch nicht die Aufarbeitung, sondern nur die Voraussetzung für die Aufarbeitung.

KNA: Neben den Taten selbst ist häufig die Vertuschung und das Inschutznehmen der Täter durch Kirchenobere ein Problem. Hat sich das Erzbistum Hamburg hier etwas vorzuwerfen?

Thissen: Alle Fälle, die bekannt wurden, haben wir aufgegriffen. Ich habe selbst oft mit Missbrauchsopfern gesprochen. Erst in diesen Gesprächen ist mir bewusst geworden, wie schlimm die Taten für die Opfer eigentlich waren. Manche haben Jahrzehnte gebraucht, bis sie überhaupt darüber reden konnten. Früher haben wir uns vor allem um die Täter gekümmert. Auch das ist wichtig. Aber inzwischen haben wir gelernt, dass die Sorge um die Opfer sehr viel wichtiger ist.

KNA: Wie häufig fragt Sie Ihr Nachfolger, Erzbischof Stefan Heße, noch um Rat?

Thissen: Wir haben guten Kontakt miteinander. Wir treffen uns regelmäßig und tauschen uns aus.

KNA: Wie blicken Sie als Ruheständler auf die aktuellen Entwicklungen im Erzbistum Hamburg?

Thissen (lacht): Ich lache deshalb, weil wir uns kürzlich mit mehreren Altbischöfen getroffen und festgestellt haben, dass es uns allen ähnlich geht. Einer sagte: Plötzlich ist man draußen, und manches läuft anders, als ich es mir wünsche. Das ist ja normal und in Ordnung. Aber man braucht Humor, Gelassenheit und Gottvertrauen.

KNA: Können Sie konkrete Punkte nennen, die Ihnen Schwierigkeiten bereiten?

Thissen: Die nenne ich meinem Nachfolger.

KNA: Erzbischof Heße und Generalvikar Ansgar Thim ordnen vor allem die Finanzen der Diözese neu. Eine Wirtschaftsprüfung hat zutage gebracht, dass das Erzbistum um rund 79 Millionen Euro überschuldet ist. In einer ersten Reaktion werden mindestens 6 der 21 katholischen Schulen in Hamburg geschlossen. Hätten Sie in Ihrer Amtszeit nicht schon stärker gegensteuern können, um diesen drastischen Schritt zu verhindern?

Thissen: Die Wirtschaftsprüfer zu meiner Dienstzeit kamen nicht zu so negativen Ergebnissen. Aber auch wir haben uns starke Sparmaßnahmen auferlegt.

KNA: Als Sie Ihren Ruhestand antraten, haben Sie angekündigt, in Zukunft häufiger die Fußballspiele des HSV zu besuchen. Tun Sie das auch nach dem Abstieg Ihres Lieblingsvereins in die zweite Liga noch?

Thissen: Ja. Ich hatte sogar vor, Mitglied zu werden, weil ich dachte: Die Armen muss man immer unterstützen. Doch dann gab es so viele Neueintritte nach dem Abstieg, dass das nicht mehr nötig war.

KNA: Wie feiern Sie Ihren 80. Geburtstag?

Thissen: Bisher habe ich runde Geburtstage und Jubiläen immer im großen Kreis gefeiert. Da denke ich gerne dran zurück. Aber ich habe gespürt, dass dieses Mal etwas anderes dran ist. Deshalb werde ich mich in die Stille eines Klosters zurückziehen und dort die ersten Tage des Advents verbringen, in die mein Geburtstag fällt. Außerdem habe ich noch einen weiteren Vorsatz gefasst: Seit ich 20 bin, führe ich Tagebuch. Ich habe mich bisher verpflichtet, nie in meinen Aufzeichnungen zu lesen. Denn ich lebe ja mit dem Blick nach vorn und nicht zurück. Aber jetzt ist der Zeitpunkt da, die Tagebücher einmal hintereinander zu lesen. Da werde ich einige Tage für brauchen, zumal ich manches sicher nur noch schwer entziffern kann. Ich erhoffe mir davon, einen geistlichen und menschlichen roten Faden zu finden, der sich durch mein Leben zieht. Darauf bin ich gespannt.

Das Gespräch führte Michael Althaus.


Quelle:
KNA