Wie die Forscher die Zahlen der Missbrauchsstudie interpretieren

"Strukturen der Kirche können Missbrauch begünstigen"

Lange musste man auf die genauen und vor allem offiziellen Zahlen der Missbrauchsstudie aus den deutschen Bistümern warten. Nun wurden sie von der Forschergruppe vorgestellt. Diese spricht in der Analyse nur von der "Spitze eines Eisbergs".

Die Studie / © Dedert (dpa)
Die Studie / © Dedert ( dpa )

Rund vier Jahre arbeiteten die Forscher um den Mannheimer Psychiater Harald Dreßing an der Untersuchung, die die katholischen Bischöfe in Auftrag gegeben hatten. Jetzt liegen die 356 Seiten, die lange von der Öffentlichkeit erwartet wurden, in einer dicken Mappe auf dem Tisch der Pressekonferenz.

Harald Dreßing trägt die Zahlen vor, die aus den Jahren 1946 bis 2014 stammen. Alle 27 Bistümer haben - für unterschiedliche Zeiträume - an der Studie teilgenommen, einige Bistümer wurden vertieft für die gesamte Phase untersucht. Dabei sind sowohl Namen der Betroffenen als auch der Bistümer selbst anonymisiert.

Merkmale und Strukturen

Gleich zu Beginn möchte der Forscher über eines seiner Hauptergebnisse der Datenerhebung sprechen. Die Missbrauchsstudie lege nämlich nahe, dass Merkmale und Strukturen der katholischen Kirche sexuellen Missbrauch durch Geistliche zumindest begünstigen können.

"Dazu gehören der Missbrauch klerikaler Macht, aber auch der Zölibat und der Umgang mit Sexualität, insbesondere mit Homosexualität, aber auch das Sakrament der Beichte", sagte der Koordinator des Forschungskonsortiums.

Zu dem Schluss kommen die Forscher aufgrund verschiedener signifikanter Unterschiede im Vergleich zu anderen Einrichtungen. Etwa ergaben die Untersuchungen, dass die Anzahl der männlichen Betroffenen, die Zahl der weiblich betroffenen überwiege. Das unterscheide sich vom sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in nicht-kirchlichen Zusammenhängen.

Forscher raten Kirche, sich mit Strukturen zu beschäftigen

Die Forscher raten dazu, den Klerikalismus zu überdenken, den sie "als das Bestreben, einer Religion über die religiös-geistige Einflusssphäre hinaus weltliche Macht zu verleihen und religiösen Dogmen politische Geltung und politisches Gewicht zu verschaffen", zu überdenken. Auch solle über den Zölibat (die aus religiösen Gründen gewählte Ehelosigkeit der Priester) sowie die Einstellung der Kirche zur Homosexualität nachgedacht werden.

Eine nähere Beschäftigung mit diesen Strukturen und Themen sei aus ihrer Sicht wichtiger als die Analyse der einzelnen Zahlen, die ohnehin nur "die Spitze eines Eisbergs" zeigen könnten.

Dreßing: Nicht von den Bischöfen beeinflusst

Dreßing verteidigte zugleich die Studie gegen Kritik: Dass die Untersuchungen aus Datenschutzgründen anonym erfolgen mussten und dass es nicht möglich gewesen sei, alle Taten seit 1946 zu erfassen, sei von vornherein bekannt gewesen. Trotzdem hätten die Forscher viele wichtige Erkenntnisse zutage fördern können.

Auch habe die Bischofskonferenz als Auftraggeber den Forschern immer freie Hand gelassen, ergänzte der Koordinator der Studie. Das gelte auch für die Präsentation und die Interpretation der Ergebnisse, die alleine von den Wissenschaftlern formuliert worden seien.

Die Ergebnisse

Ein Blick auf die Zahlen liefert aus den 38.156 ausgewerteten Akten der 27 deutschen Bistümer, dass es bei 1.670 Klerikern (4,4, Prozent) Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger gegeben habe. Darunter waren 1.429 Diözesanpriester (5,1 Prozent aller Diözesanpriester), 159 Ordenspriester (2,1 Prozent) und 24 hauptamtliche Diakone (1,0 Prozent).

3.677 Kinder und Jugendliche, meist unter 14 Jahren

3.677 Kinder und Jugendliche sind als Opfer dieser Taten dokumentiert. Bei 54 Prozent der Beschuldigten lagen Hinweise auf ein einziges Opfer vor, bei 42,3 Prozent Hinweise auf mehrere Betroffene zwischen 2 und 44, der Durchschnitt lag bei 2,5.

Beim ersten Missbrauch waren 51,6 Prozent der Betroffenen jünger als 14 Jahre alt. 25,8 Prozent waren 14 oder älter, bei 22,6 Prozent war das Alter nicht dokumentiert.

Messdiener oder Schüler

Drei von vier Betroffenen standen mit den Beschuldigten in einer kirchlichen oder seelsorgerischen Beziehung, zum Beispiel als Messdiener oder als Schüler im Rahmen von Religionsunterricht, Erstkommunion- oder Firmvorbereitung.

Bei 566 Beschuldigten (33,9 Prozent) wurden kirchenrechtliche Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger eingeleitet, bei 53 Prozent nicht, bei 13,1 Prozent fehlten entsprechende Angaben.

Viele kirchenrechtliche Verfahren endeten ohne Sanktionen

Rund ein Viertel aller eingeleiteten kirchenrechtlichen Verfahren endete ohne Sanktionen. Aus dem Klerikerstand entlassen wurden 41 Beschuldigte, 88 wurden exkommuniziert, also aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen.

Laut Studie hat sich rund die Hälfte der sexuellen Missbrauchstaten im Zusammenhang mit privaten Treffen von Beschuldigten und Betroffenen ereignet. Häufigster Tatort ist danach die Privat- oder Dienstwohnung des Beschuldigten gewesen. Zu einem großen Anteil hätten die Taten aber auch in kirchlichen oder schulischen Räumlichkeiten oder in organisierten Zelt- oder Ferienlagern stattgefunden.

Depressionen und sozialer Rückzug

Die Folgen für die Opfer sind nach der Studie "langfristig und gravierend". So gab rund ein Drittel der Betroffenen an, als Folge der Taten Schwierigkeiten in sexuellen Beziehungen zu haben. Rund ein Fünftel der Betroffenen leide unter Depressionen und einem sozialen Rückzug. Etwa 24 Prozent gibt an, als Folge des Missbrauchs misstrauischer gegenüber anderen Menschen zu sein. Probleme in Ausbildung oder Beruf benennen 22 Prozent der Befragten. Dazu kommen posttraumatische Belastungsstörung (21 Prozent), Angstzustände (16 Prozent), Alkohol- und Drogenmissbrauch (16 Prozent) sowie Schlafstörungen (16 Prozent), Suizidgedanken (11 Prozent) und Konzentrationsstörungen (9 Prozent).

Die Befunde der Personal- oder Strafaktenanalysen beziehen sich nach Angaben der Forscher ausnahmslos auf das Hellfeld des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen durch Kleriker der katholischen Kirche. Erkenntnisse über das Dunkelfeld seien nicht erlangt worden.


Quelle:
KNA , DR
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