Stadtkirche in München war Zufluchtsort

Offene Türen

München, Freitagabend: An verschiedenen Orten im Stadtgebiet kommt es zu Massenpaniken. Geistesgegenwärtig gewährt Pfarrer Rainer Maria Schießler verängstigten Menschen Zuflucht in der Stadtkirche St. Maximilian. Noch in der Nacht telefoniert er mit Alois Bierl, dem Leiter des Münchener Kirchenradios. Auch Bierl ist in der Stadt unterwegs, als die Panik ausbricht. 

Starke Polizeipräsenz wegen Schießerei in München / © Daniel Karmann (dpa)
Starke Polizeipräsenz wegen Schießerei in München / © Daniel Karmann ( dpa )

domradio.de: Wo waren Sie, als der Alarm kurz vor 18 Uhr ausgelöst wurde und die Panik dort aufkam?

Alois Bierl, Leiter Münchener Kirchenradio: Ich war mit meiner Frau im Kino, mitten im Herzen der Stadt, im Stadtmuseum. Plötzlich hat mich dort ein Telefonanruf erreicht – meine Tochter hat mich angerufen und gefragt, ob mit uns  alles in Ordnung sei. Durch eine Nachrichten-App wusste ich schon vorher, dass es wohl eine Schießerei gegeben habe und meine Tochter hat mir dann erzählt, dass es auch am Stachus und am Museumsplatz zu Schießereien gekommen sei. Daraufhin habe ich das Kino verlassen und kaum als ich aus dem Saal heraus war, habe ich eine größere Menschenmenge bemerkt, die völlig aufgelöst in den Innenhof des Stadtmuseums hineinströmte. Es waren Frauen dabei, die hundertprozentig davon überzeugt waren, Schüsse gehört zu haben und gleich Nachrichten an ihre Lieben schickten. Dann rannte ein völlig aufgelöster Mann durch den Innenhof, der schrie, dass er Männer mit Maschinengewehren gesehen habe, die auf Menschen schossen. Das hat sich nachher als Falschmeldungen herausgestellt. Aber es wurde klar, was Angst, die ja schon vorher bei den Menschen herrschte, auslösen kann, sodass sie plötzlich in einer Parallelwirklichkeit leben. Den ganzen Abend über waren Menschen in diesem Stadtmuseum versammelt, Menschen mit Kindern, die eigentlich auch nicht wussten, wie es weitergeht. Zu dem Zeitpunkt war schließlich auch noch die Rede von zwei weiteren Attentätern, die noch im Stadtgebiet unterwegs sein sollten. Erst nach und nach haben sich Gruppen von zwei oder drei entschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen, weil ja alle Verkehrsmittel lahm gelegt waren. Ich bin dann auch nach Hause gegangen, zusammen mit einem anderen Mann, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Da lag schon eine merkwürdige Stimmung über der Stadt, ein bisschen wie Mehltau.

domradio.de: Wie nahe war diese Kino am Einkaufszentrum?

Bierl: Das Kino ist vom Olympiaeinkaufszentrum einige Kilometer weit entfernt. Es war aber in der Nähe des Stachus und des Odeonsplatzes, wo ebenfalls eine Massenpanik ausgebrochen ist. Ein Kollege hat mir erzählt, dass es wie ein Bienenschwarm war. Plötzlich haben sich massenweise Menschen vom Stachus Richtung Marienplatz bewegt und sind in Geschäfte oder in Kirchen geflohen. Die Polizei hatte zuvor darum gebeten, sich nicht mehr auf der Straße und auf offenen Plätzen aufzuhalten. Was man noch hinzufügen muss: das Stadtmuseum liegt direkt an der Synagoge, also an der israelischen Kultusgemeinde. Da war mir schon mulmig zu Gefühl, weil man befürchtet, dass so eine Stelle auch Anschlagsziel sein könnte. Aber dort war alles ruhig.

domradio.de: Stadtpfarrer Rainer Maria Schießler ist mit seiner Kirche auch in das Geschehen geraten. Er hat seine Kirche geöffnet. Was ist da genau passiert?

Bierl: Ich habe um Mitternacht noch mit ihm telefoniert. Er hat mir erzählt, sie hätten gerade eine Vernissage gehabt. Plötzlich seien – wie beim Stadtmuseum auch – Menschen völlig aufgelöst in die Kirche eingedrungen. Da ist ihm dann allmählich klargeworden, dass wohl eine Massenpanik ausgebrochen sein muss. Die Menschen, die Einlass begehrten, wurden dann noch eingelassen, bevor von innen zugesperrt wurde. Die Veranstaltung war natürlich geschmissen. Als dann klar war, dass am Museumsplatz und am Stachus nicht geschossen wird, haben der Messner, also der Küster und der Pfarrer, die Menschen tröpfchenweise, also zu zweit und zu dritt, nach draußen gelassen, sofern sie das wollten. Nach Mitternacht war die Kirche dann weitestgehend leer. Es waren aber noch Pfarrangehörige in der Kirche, um zu schauen, ob noch jemand Hilfe braucht. Ansonsten war das wirklich gespenstisch gestern Nacht. Es fuhr ja kein Bus, die Taxis durften auch nicht anhalten, um Menschen mitzunehmen und ich bin auch schon sehr beklommen durch die Stadt gegangen. Als ich dann auf einer Isarbrücke ging, waren darunter im Bogen große Menschenansammlungen, die ganz still waren, also nicht wie sonst, einen Ghettoblaster laufen hatten. Und wenn man dann auf der Brücke oder auf der Straße jemandem begegnet ist, dann hat man sich zuerst einmal misstrauisch angeschaut. Gestern Abend hat München wirklich sein Lächeln verloren. Jeder war in einer Anspannung und die Stadt ist verstört und sicher mit ganz vielen Tränen gestern Abend zu Bett gegangen.

domradio.de: Sicher wird dieses Geschehen heute und morgen auch in den Gottesdiensten ein Thema sein. Welche Antwort sollte die Kirchen in München den Menschen geben?

Bierl: Zunächst einmal müssen die Kirchen offen sein. Ich glaube, das ist das erste Signal: Wir bieten Räume für Menschen, die jetzt ihr Trauma loswerden wollen. Ganz in der Nähe des Olympiaeinkaufszentrums befindet sich St. Martin, eine Traditionskirche wenn man so will. Dort soll heute Abend ein Chorkonzert stattfinden, von dem noch nicht klar ist, ob es abgesagt wird. Ich persönlich würde sagen: Das sollen sie bitte nicht tun. Denn wenn man heute etwas braucht, dann sind das Räume, in denen man zur Besinnung, zur Ruhe , kommen kann und in denen man auch seinen Schmerz gemeinsam mit anderen ausleben kann. Denn das ist klar: Dieser Anschlag von gestern Abend hat München wirklich ins Mark getroffen. Wir sind angeblich die sicherste Großstadt der Welt und wenn so etwas passiert, dann bleibt das nicht ohne Wirkung auf die Menschen und das lässt auch innerlich und seelisch was aus.

Das Interview führte Christian Schlegel.


Quelle:
DR