Höhenretter üben Ernstfall im Ulmer Münster

Einsatz am seidenen Faden

Das Leben an zwei dünnen Seilen, ein Schacht in die schwarze Dunkelheit - eine Rettungsübung im Ulmer Münster ist selbst für geübte Höhenretter aufregend. Auch im höchsten Kirchturm der Welt kann es immer zum Ernstfall kommen.

Autor/in:
Nico Pointner
Höhenrettung im Ulmer Münster / © Felix Kästle (dpa)
Höhenrettung im Ulmer Münster / © Felix Kästle ( dpa )

Tobias Hilpold spielt seine Rolle gut. Er wirkt fast ein wenig blass. Laut Drehbuch hat er nämlich starke Herzbeschwerden, sie strahlen in seinen Arm aus. Ein Infarkt? Um ihn herum wuseln Rettungskräfte, sie schließen ihn an Schläuche und Maschinen an, bauen ein EKG auf, überprüfen Werte. Hilpold muss schnell in ein Krankenhaus, raus aus dem Ulmer Münster. Doch bis nach unten sind es Hunderte Treppenstufen.

Die Retter schnallen den 21-Jährigen auf einer Trage fest, decken ihn zu und tragen ihn zu einem Schacht im sogenannten Turmzimmer. Er schwebt nun 72 Meter über dem Boden. Dann lassen die Höhenretter ihn mit einem Helfer hinab in die dunkle Tiefe. Ihr Leben hängt nun an einem kleinen blauen und roten Seil. In seinem orangenen Sarg sinkt Hilpold Meter für Meter in den Schacht. Das Holz knarzt. Nun wirkt er wirklich blass.

Klettermeister und Abseilprofis

Bergen aus luftigen Höhen und klaffenden Tiefen - ein Fall für die Höhenretter der Feuerwehr. Sie sind Klettermeister und Abseilprofis, können in Not geratene Menschen und Tiere aus Schächten bergen oder von Dächern herunterholen. "Für alles, was höher ist als 30 Meter, wo man mit Feuerwehrgerät nicht mehr rankommt", erklärt Johannes Hühn, Leiter der Ulmer Höhenrettungstruppe. Bis zu fünf Mal im Jahr werden die Ehrenämtler alarmiert, die Einsätze reichen vom verletzten Kranmonteur bis zum Ballonfahrer.

Sie brauchen eine Grundausbildung bei der Feuerwehr ebenso wie einen 80-stündigen Grundlehrgang. Und auch Profis müssen immer wieder üben. "Pro Jahr 72 Übungsstunden am Seil", sagt Hühn. Selten ist ein Übungsort so ungewöhnlich wie das Jahrhunderte alte Ulmer Münster mit dem höchsten Kirchturm der Welt. "Das ist mal was anderes."

Die Kirche ragt 161,53 Meter in den Himmel. Von der Turmstube in 72 Metern Höhe führt ein Schacht durch den Glockensaal über den Orgelboden zur Ehrenhalle am Hauptportal der Kirche. Dort wurden früher die großen Kirchenglocken mit Seilen nach oben gezogen. Einmal im Jahr baumeln Rettungskräfte im Schacht und proben den Ernstfall.

Kreislaufprobleme oder Knochenbrüche

Die gibt es auch im Münster. "Wir haben viele Kreislaufsachen, aber auch Knochenbrüche", erzählt Turmwart Jürgen Schnittker. Viele Leute überschätzten sich mit den 768 Stufen bis nach oben. "Die jagen hier hoch bei 30 Grad", sagt der 52-Jährige.

Die Höhenretter kommen schwer bepackt mit kiloweise Spezialausrüstung: Helme, Seile, Gurte, Bandschlingen, Karabiner, Rollen, Flaschenzug, Sicherungsgeräte. Drei Rettungsdurchgänge machen sie an diesem Abend. Hühn stoppt die Zeit. 7 Minuten Aufstieg, 15 Minuten Patientenvorbereitung, 8 Minuten Ablassen - Hühn ist zufrieden. "Wir wollen uns nicht messen, das ist kein Wettkampf", sagt der 32-Jährige. Sicherheit gehe vor Schnelligkeit.

Übung ohne Puppen

Oben lassen die Feuerwehrleute die "Verletzten" in die Tiefe ab. Der Kollege an der Trage gibt ihnen Kommandos durch. Denn zwischen den riesigen Räumen ist der Schacht nur zwei Meter breit. "Drei Meter bis zum nächsten Loch", ruft der Höhenretter in sein Telefon. "Patient hat Bodenkontakt!", knirscht es dann aus dem Funkgerät. Wieso nehmen sie keine Puppen? "Damit es reeller wirkt", sagt Hühn. "Der Umgang mit lebender Person ist ganz anders als mit einer Puppe."

Vor wenigen Tagen schlich sich ein lebensmüder Kletterer nachts auf die Turmspitze, um ein Selfie von sich zu machen. Mit dem Video im Netz erregte er viel Aufsehen. Die Aktion sei illegal und "ziemlich blöde", schimpft Hühn. Der Mann habe nicht nur sich selbst, sondern auch andere gefährdet - durch herabfallende Steine. "Wenn man sich ein bisschen mit dem Münster befasst, weiß man, dass der Sandstein recht bröselig sein kann."

Der "Patient" Hilpold hat das Abenteuer überstanden. "Sie haben mich nach allen Regeln der Kunst verarztet", erzählt der Rettungssanitäter in der Ausbildung nach der Abseil-Aktion. "Das war richtig witzig." Und wenn es ernst wird, sind die Höhenretter wieder ein Stück besser gewappnet.


Quelle:
dpa