Eine Kirche lädt zum Übernachten ein

"Wer kommt, ist herzlich willkommen bei uns"

In der Michaeliskirche in Neustadt am Rennsteig können Besucher jetzt auch übernachten. Für diese Besonderheit wird nachts sogar die Turmuhr ausgeschaltet, erzählt Horst Brettel, der die Idee für dieses Vorhaben hatte. 

Die "Her(r)bergs-Kirche" in Neustadt am Rennsteig / © René Zieger (IBA Thüringen)
Die "Her(r)bergs-Kirche" in Neustadt am Rennsteig / © René Zieger ( IBA Thüringen )

DOMRADIO.DE: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dass man in einer Kirche übernachten kann?

Horst Brettel (Vorsitzender des Neustädter Gemeindekirchenrats): Ich war 20 Jahre im Kirchenkreis tätig und die Probleme mit leerstehenden beziehungsweise wenig genutzten Kirchen waren mir durchaus bekannt. 2017 bekamen wir von einem Architektenteam die Nachfrage, ob wir bereit wären, testweise eine Schlafstelle in der Kirche zu installieren.

Das Team hatte sich an einem Aufruf der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und der Internationalen Bauausstellung Thüringen beteiligt und ihren Vorschlag "Herbergskirchen im Thüringer Wald" eingereicht. Es wurde ausgewählt und dann habe ich gesagt: "Klar, wir machen diese Testinstallation."

DOMRADIO.DE: Und wo schlafen die Leute denn bei Ihnen?

Brettel: Die erste Installation war eine Installation mitten in der Kirche. Wir haben ein paar Kirchenbänke abgebaut und dort die Testinstallation durchgeführt, um die Leute im Ort und in der Region für die Problematik zu sensibilisieren, dass es immer weniger und immer älterwerdende Gottesdienstbesucher gibt, und damit, was wir in fünf, sechs oder zehn Jahren mit der Kirche machen, wenn die jungen Menschen nicht mehr kommen.

Wir wollten erreichen, dass die Kirche wieder ganz normal als Begegnungsstätte für die Einheimischen, aber auch für Gäste aus ganz Deutschland und der Welt, erlebbar ist.

DOMRADIO.DE: Hat das geklappt? Mischen sich die Besucher, die bei Ihnen in der Kirche übernachten, und die Gemeindemitglieder?

Brettel: Bei den Übernachtungen nicht, das ist ganz klar. Die Leute kommen und schlafen hier. Aber dadurch, dass sie sich im Ort aufhalten, essen gehen, einkaufen und dort zwangsläufig auch mit Gästen und Einheimischen in Berührung kommen, denke ich, dass da schon ein Informations- oder Gesprächsaustausch vorhanden ist.

DOMRADIO.DE: Was kommen da für Leute, die bei Ihnen in der Kirche übernachten?

Brettel: Das lässt sich überhaupt nicht kategorisieren. Da kommt wirklich alles. Der jüngste Übernachtungsgast war aus Litauen und ein Jahr alt, die ältesten Gäste waren 86 Jahre alt. Man kann nicht sagen, dass es eine bestimmte Berufsgruppe ist, oder, dass es nur christliche Menschen sind, die herkommen. Wir haben wirklich Gäste aller Couleur, die ist einfach spannend finden, in einer Kirche schlafen zu dürfen oder wirklich tiefe Gründe haben, sich aus ihrem Alltagsleben zurückzuziehen, um einfach mal zur Ruhe zu kommen.

Es gibt diesen großen Kirchenraum und eigentlich nur die Schlafstelle im hinteren Teil der Kirche, aber mit Blick auf den Altarraum mit den bunten Betonglasfenstern. Wenn dann morgens die Sonne aufgeht, sind die Menschen begeistert über dieses Lichtspiel, das sich da ergibt. Wir können nicht sagen, dass nur Interessierte, nur Architekten oder nur bestimmte Personengruppen kommen. Wer kommt, ist herzlich willkommen bei uns. Wir fragen auch nicht nach Religionszugehörigkeit, Konfession oder sonst irgendwas, weil wir einfach allen Menschen die Möglichkeit geben, Kirchenraum zu erleben oder wieder zu erleben. Das ist uns mehr als gelungen.

DOMRADIO.DE: Was erzählen die Menschen denn am nächsten Morgen? Haben die geschlafen wie in Abrahams Schoß? Oder erzählen auch schon mal welche, dass es Ihnen unheimlich gewesen ist?

Brettel: Nein, das ist nicht unheimlich. Es ist eher eine besondere Situation, weil in diesem großen Raum diese Ruhe ist. Sie haben ja keinerlei Ablenkung. Geräusche sind in der Kirche so gut wie nicht vorhanden. Wir stellen über Nacht den Glockenschlag der Turmuhr ab, damit die Gäste nicht jede Stunde im Bett stehen. Wenn ich dann am Morgen danach komme und frage, dann sehe ich meistens in den Gesichtern schon, dass die Menschen nur begeistert sind.

DOMRADIO.DE: Gibt's denn in dieser Saison noch freie Plätze? Ab wann könnte man mal bei Ihnen übernachten?

Brettel: Nein, im Moment sind wir voll. Wohl auch bedingt durch die Corona-Krise sind wir voll ausgebucht. Die Monate April – da war ja noch Corona-Krise – Mai, Juni, Juli, August und September waren komplett ausgebucht, und zwar relativ fix. Es kommen immer mal Stornierungen vor, aber auch diese Termine werden relativ schnell wieder belegt.

DOMRADIO.DE: Wer es einmal ausprobieren will, sollte also vielleicht für nächstes Jahr planen?

Brettel: Richtig. Und wir stellen diesen Schlafplatz nur von April bis September zur Verfügung, weil wir hier auf 800 Metern Höhe sind und die Witterung hier manchmal etwas anders ist, als im Tal. Da wird es dann eifnach zu kalt das kann man den Besuchern nicht antun. Es gibt Gäste, die sagen, dass sie auch im Freien schlafen, wenn sie am Rennsteig unterwegs sind, aber wenn es in der Kirche nur noch zwei, drei Grad sind, dann ist das sicherlich nicht mehr prickelnd.

Das Interview führte Heike Sicconi.


Die "Her(r)bergs-Kirche" in Neustadt am Rennsteig / © Thomas Müller (IBA Thüringen)
Die "Her(r)bergs-Kirche" in Neustadt am Rennsteig / © Thomas Müller ( IBA Thüringen )
Quelle:
DR