Die Geschichte der DDR-Untergrund-Publikation "radix-blätter"

"Das darf auch kein Bischof wissen"

Ein Kloster, ein Keller, eine geheime Druckerei: "Fenster zur Freiheit" heißt das Buch von Peter Wensierski, das die Geschichte der radix-blätter erzählt, einer Untergrundpublikation in der DDR.

Autor/in:
Nina Schmedding
Historische Drucktypen / © spr (shutterstock)

Die backsteinerne Kirche liegt versteckt hinter einem nüchternen Gebäudekomplex in der Greifswalder Straße, mitten im Berliner Bezirk-Prenzlauer Berg. Unscheinbar ist auch die Tür im Hinterhof der Klosteranlage, die in den Keller hinunterführt. Hier im Untergeschoss des Katharinenstifts, in einem weiß getünchten Raum mit vergitterten Fenstern, befand sich bis zum Ende der DDR eine geheime Druckerei der Berliner Bischofskonferenz.

Das dort produzierte theologische Bulletin, in dem auch westdeutsche Autoren veröffentlichten und das "Priester von Hand zu Hand weiterreichten", wäre sonst unter die staatliche Zensur gefallen, wie der ehemalige Leiter der Druckerei, der frühere Eichsfelder Propst Heinz-Josef Durstewitz, erzählt. "Diese Dinge waren höchst geheim."

Das machte es möglich, dass dort auch die Herstellung der "radix-blätter" unterstützt wurde, in denen 136 Autorinnen und Autoren unter ihren vollen Namen systemkritische Texte zum DDR-Regime veröffentlichten. Von 1986 bis zum Fall der Mauer 1989 wurden mehr als 120.000 Seiten veröffentlicht, ohne dass die Stasi es verhindern konnte. Der Journalist Peter Wensierski hat über den Untergrundverlag und -druck jetzt ein Buch geschrieben. Am Dienstagabend wurde es im Katharinenstift vorgestellt.

Papier aus katholischen Quellen

Ein großes Problem bei der Produktion der illegalen "radix"-Hefte war "die Papierbeschaffung", wie der evangelische Pfarrer und Direktor der Evangelischen Akademie Meißen, Stephan Bickhardt, berichtet. Er war damals Theologie- und Pädagogikstudent und Herausgeber der Blätter. Papier war in der DDR knapp, und man konnte auch nicht - ohne aufzufallen - "aus einem Schreibwarengeschäft gehen mit 2.000 Blatt Papier unter dem Arm".

Durch seine Bekanntschaft mit Durstewitz durfte er aus den Papiervorräten der katholischen Kirche regelmäßig etwas abzweigen. "Das bleibt unter uns", raunte Durstewitz ihm damals zu, "das darf auch kein Bischof wissen".

Die Großbögen aus den Papierfabriken, die Durstewitz unter der Hand erhalten hatte, mussten im Keller des Katharinenstifts noch auf DIN A4 zugeschnitten werden. Dann wurden sie in die geheime "radix"-Druckerei gefahren, die in einer kleinen, von außen nicht einsehbaren Kammer in Bickhardts Elternhaus in Kaulsdorf am Rande von Berlin untergebracht war.

Die Scheren der von "radix" mitbenutzen Schneidemaschine ließ Durstewitz inoffiziell immer in der Werkstatt der Druckerei des "Neuen Deutschland" - dem Zentralorgan der SED - wieder scharf schleifen. Er hatte dorthin persönliche Beziehungen, wie er erzählt.

"Vielleicht war die Stasi überfordert"

Der Name "radix" - Wurzel - war von Bickhardt bewusst gewählt. Man wollte den Verhältnissen in der DDR kritisch auf den Grund gehen, bis zur Wurzel vorstoßen. Dazu waren die Hefte mit Aufsätzen, Aufrufen, Analysen und Gedichten intellektuell anspruchsvoll gestaltet. Die Titel der Hefte wie etwa "Atem" waren jeweils verschieden und eher unauffällig. "Vielleicht war die Stasi überfordert", vermutet Wensierski ironisch. Fakt sei: Ihre Mitarbeiter tappten völlig im Dunkeln, wie Geheimdienst-Akten nahelegten.

Für Bickhardt ist ein Grund dafür vor allem die Unübersichtlichkeit bei der Produktion des Heftes - "möglichst viele Aktivitäten gleichzeitig und ohne erkennbare Struktur". Keiner habe vom Anderen gewusst, jeder sei für Einzelbereiche tätig gewesen: der eine für den Druck, der andere für das Abtippen, der nächste für den Vertrieb, der etwa bei Hauslesungen Bickhardts oder auf kirchlichen Basaren erfolgte.

Durstewitz erinnert sich, dass Anwohner in der Umgebung des Katharinenstifts dennoch irgendwann zu reden anfingen. "Die drucken da was", hieß es. "Die machen so Heiligenbildchen". Ein Gerücht, das er so stehen ließ, wie er mit einem Schmunzeln erzählt - schließlich klang es weit harmloser als die Wahrheit.

Nur ein Mal bekam er einen tüchtigen Schreck, als plötzlich zwei Männer in seinem Büro standen, ihm ein aktuelles "radix"-Heft unter die Nase hielten und ihn fragten, ob er das kenne. Er reagierte blitzschnell. "Und Sie? Wer sind Sie? Wo ist Ihr Vorgesetzter?", fragte er streng, worauf die beiden das Heft bei ihm ließen und hastig verschwanden. "Die Angst war nicht nur einseitig", so Durstewitz, "sie ging hin und her."


Quelle:
KNA