Der Publizist Alfred Grosser wird 90

Mittler zwischen Deutschland und Frankreich

Er hat jüdische Eltern und ist selbst Atheist: Religion hat Alfred Grosser, einer der bedeutendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, dennoch immer interessiert. Am Sonntag wird er 90 Jahre alt.

Autor/in:
Barbara Schneider
Alfred Grosser (epd)
Alfred Grosser / ( epd )

Der französische Publizist, der in Frankfurt am Main geboren ist, setzt sich seit vielen Jahren für die deutsch-französische Verständigung ein. Er bezeichnet sich als Atheist und betrachtet mit kritisch-wohlwollendem Blick das Christentum. "Ich habe eine Schwäche für Luther", sagte er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). An den beiden großen Kirchen kritisiert er: "Die katholische Kirche verbietet zu viel, die evangelische zu wenig."

epd: Ihre Eltern waren Juden, selbst bezeichnen Sie sich als Atheist. In ihrem Buch "Die Früchte ihres Baumes" haben Sie aus atheistischer Sicht das Christentum analysiert. Was reizt Sie an der Religion?

Alfred Grosser: Ich bin ein Mitläufer des französischen Katholizismus. Es gibt zwei menschliche Gemeinschaften, denen ich nicht angehöre, aber die mir erlauben mitzustreiten: als Franzose in Deutschland und als Atheist im Katholizismus. Mit meinem Freund Kardinal Reinhard Marx hatte ich unlängst eine öffentliche Diskussion in München. Das wäre in dieser Offenheit vor ein paar Jahren nicht möglich gewesen. Er sprach von seinem Glauben, ich von meinem Unglauben - also von meinem nicht-christlichen Glauben, meinen Nicht-Schriftglauben. Ich glaube an vieles, ich glaube an Menschen und das tut die Kirche langsam auch.

epd: Sie haben sich aber auch intensiv mit dem Protestantismus beschäftigt. Weshalb die Auseinandersetzung mit dem Luthertum?

Grosser: Ich habe eine Schwäche für Luther, ich habe überhaupt keine Schwäche für Calvin, den ich furchtbar finde. Calvin war so eine Art Savonarola, der die Intoleranz verkörpert (Anmerkung der Redaktion: italienischer Dominikanermönch und radikaler Bußprediger im 15. Jahrhundert). Luther war da ganz anders, seine Haltung den Bauern gegenüber ausgeschlossen. Er war ein hervorragender Mensch, ich bewundere, in welcher Eile er gut die Bibel übersetzt hat. Die katholische Kirche hat nachgeahmt, dass man die Sprache des Volkes bei der Eucharistiefeier haben soll. Das hat man Luther zu verdanken.

epd: Ändert sich die katholische Kirche unter Papst Franziskus?

Grosser: Ich sehe Franziskus als Hoffnungsträger, und hoffe, dass er gesund bleibt und sein Amt nicht aufgibt, bevor er vieles erreicht hat. Ich hoffe, er wird viel erreichen.

epd: Was erwarten Sie speziell?

Grosser: Er wird die Rolle der Frau stärken. Langsam besteht zudem Hoffnung im Blick auf den Zölibat. Es gibt keinen christlichen Grund, die Priester-Ehe zu verbieten. Das Verbot der Ehe für Priester wurde im 4. Jahrhundert eingeführt, damit sie nichts vererben können und ihr Besitz an die katholische Kirche geht.

epd: Worin unterscheiden sich heute katholische und evangelische Kirche?

Grosser: Der Unterschied in Deutschland zwischen katholischer und evangelischer Kirche ist: Die katholische Kirche verbietet zu viel, die evangelische zu wenig. Was ist zu dulden, was nicht? Die katholische Kirche in Frankreich hat gesagt, es darf keine Homo-Ehe geben. Zugleich hat sie aber nie von der kirchlichen Ehe gesprochen. Sie hätte sagen sollen, die Zivilehe geht uns nichts an, aber eine kirchliche Heirat für homosexuelle Paare kommt nicht infrage. Man soll klar sagen, was man will und nicht will.

epd: Wie steht es um die katholische Kirche in Deutschland?

Grosser: Deutschland entwickelt sich mit Blick auf die katholische Kirche nicht allzu schlecht. Kardinal Joachim Meisner ist weg. Aber das Schlimmste in Deutschland ist das Geld. Wer keine Kirchensteuer zahlt, wird exkommuniziert. Das gibt es hier in Frankreich nicht, unsere Kirche ist wirklich arm.

epd: Und die Evangelische Kirche in Deutschland?

Grosser: Man hat klar den Eindruck, dass die EKD nichts will. Zwischen 1985 und 1989 hat die EKD im Namen der Annäherung an den Osten das Wort Freiheit nicht mehr benutzt. Hier fielen immer nur drei Worte: soziale Gerechtigkeit - das konnte dem Osten nicht schaden -, Frieden ebenso wenig und der Schutz der Natur. Das waren alles Schlagwörter, die vom Osten bejaht werden konnten, nur das Wort Freiheit wurde nicht mehr ausgesprochen. Wir können kein Europa machen, wo nicht das Wort Freiheit groß geschrieben wird.

epd: In zwei Jahren steht das Reformationsjubiläum vor der Tür. Was erwarten Sie sich davon?

Grosser: Ich hoffe, dass der Papst kommt. Als Johannes Paul II. zu seinem ersten Besuch 1980 nach Deutschland kam, war das eine schöne Begegnung mit der Spitze der evangelischen Kirche - im Sinn von: wir haben uns gegenseitig Sünden zu vergeben. Das war ein großes Geständnis.

epd: Sie haben immer wieder betont, der französische Laizismus ist ein Vorbild für Europa. Warum?

Grosser: Als in einigen Rathäusern in Frankreich in der Adventszeit Krippen gezeigt werden sollten, gab es eine große Diskussion um die Frage, ob das nicht gegen den Laizismus ist. Die Antwort ist, es ist eine christliche Tradition. Auch Atheisten wie ich möchten festhalten an christlichen Traditionen. Gleichzeitig ist Toleranz aber keine christliche Tradition, Toleranz ist mit der Aufklärung erst dazugekommen.

epd: Sie haben sich stets für die deutsch-französische Verständigung engagiert. Wo stehen die beiden Länder heute?

Grosser: Seit Jahren bereitet Deutschland Frankreich Sorgen und umgekehrt. Frankreich ist das Sorgenkind, weil es nie seine Versprechen hält, weil es nicht funktioniert. Als aber nach dem Anschlag auf das Satire-Magazin "Charlie Hebdo" mehr als 3,5 Millionen Menschen in Frankreich auf die Straße gingen, hat sich ein würdiges Frankreich gezeigt, ein - im französischen Sinn - enorm republikanisches Frankreich.

Das hat auch in Deutschland beeindruckt. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es zwischen den beiden Bevölkerungen unzählige Verbindungen und Verquickungen. Unzählige deutsch-französische Ehen, Partnerschaften auf allen Gebieten der Wirtschaft und in der Wissenschaft. Das ist sehr vorbildlich.


Quelle:
epd