oder: 3600 geschenkte Sekunden

Zeitdiebe und Zeitumstellung

„Wird mir wieder eine Stunde geklaut? Oder eine geschenkt“, fragt mein Mann seit Jahren. Immer zweimal im Jahr, immer pünktlich zur Zeitumstellung.

Kirchturmuhr / ©  Martin Schutt (dpa)
Kirchturmuhr / © Martin Schutt ( dpa )

Erklären hilft nicht. Aufmalen hilft nicht. Mein Mann hat keine Lust hat, sich die Details der Zeitumstellung zu merken. Deshalb merkt er sie sich nicht. Da ist nichts zu machen.

Irgendwann habe ich eingesehen, dass manche Rätsel unergründlich sind. Warum sich mein Mann das mit der Zeitumstellung nicht merkt, gehört wohl zu den Unergründlichen.

Wir haben uns also einfach daran gewöhnt im Frühjahr im Chor: „geklaut“ und im Herbst „geschenkt“ zu rufen, wenn die Frage mal wieder im Raum steht. Dieses Mal aber geht meine Fantasie mit mir durch, dieses Mal nehme ich meinen Mann beim Wort.

Ich stelle mir vor, wie Zeitdiebe bei uns einbrechen und ein Paket mit einer Stunde Zeit aus dem Haus verschwinden lassen. Das ganze Frühjahr, den ganzen Sommer und den Herbstanfang auch noch, wird die Zeit weg sein. Was die Diebe in der Zeit wohl mit ihr machen?

Aber am letzten Oktoberwochenende, also heute, kommt die Zeit wohlbehalten zurück.

Alle 3 600 gestohlenen Sekunden sind wieder da. In der Nacht wird das Paket wieder ins Wohnzimmer getragen. Vielleicht rieselten dann beim Ausleeren 3600 Kieselsteine heraus. Oder flögen 3600 Pusteblumenschirme in den Raum. Oder zögen 3 600 Sandkörner im Gänsemarsch in die Uhr zurück.

3 600 Sekunden sind fast mehr, als ich mir auf einmal vorstellen kann. Auch 60 Minuten sind schon viel – wenn ich mir die 60 nebeneinander, sagen wir als, Mensch-ärger-dich-nicht-Figürchen aufgereiht vorstelle.

Ich stelle mir vor, wie reich mein Leben wäre, würde ich wirklich merken, wieviel Zeit, wie viele Minuten, wie viele Momente mein Leben jeden Tag hat. Wenn ich Sie denn merken würde – und nicht einfach nur verstreichen ließe? Ich habe immerhin 24 Stunden, 7 Tage die Woche und 365 Tage im Jahr. Jedes Jahr meines Lebens.

Wie viele Sekunden ein Jahr hat – frage ich erst mich. Und jetzt Sie: was schätzen Sie? Mehr als 10 Millionen? Ich musste die Antwort auch erst googeln. Und staune: ein Jahr hat: 31 536 000 Sekunden.

Über 31 Millionen Sekunden? Unglaublich. Oder: wunderbar! Was für ein Reichtum.

Und jetzt weiß auch, was ich mit den 3 600 Sekunden anstelle, die ich diese Nacht zurückgeschenkt bekommen habe: ich werde sie weiterschenken.


Zeitumstellung ist schwierig / © ESB Professional (shutterstock)
Zeitumstellung ist schwierig / © ESB Professional ( shutterstock )