Von der Entdeckung der Briefkunst

Ein Brief ist ein Ereignis

"Briefeschreiben ist cool: ich kann da so lange einen Gedanken aufschreiben, bis ich ihn ganz zu Ende gedacht habe." Mit erhitzten Wangen und blitzenden Augen hebt eine Freundin der Kinder den Blick von ihrem eng beschriebenen Spiralblock.

Postkarte mit Auferstehungsmotiv / © Harald Oppitz (KNA)
Postkarte mit Auferstehungsmotiv / © Harald Oppitz ( KNA )

Das junge Mädchen ist das erste Mal mit uns auf die kleine irische Insel gefahren. Weil sie ihre Haare aktuell knallgrün trägt, nenne ich sie, in memoriam von Ottfried Preußlers wunderbarem kleinem Wassermann mit den grünen Haaren, "die kleine Inselwasserfrau". Die kleine Inselwasserfrau schaut verdutzt in die Welt, erstaunt darüber, dass Briefe schreiben ihr so eine Freude macht.

 

Ich lächle in mich hinein. Und vielleicht auch in die Sonne und die Ruhe dieser Urlaubsmittagsstunde. Sage: "Hm, das ist das Wesen eines Briefes: Man kann einfach alles aufschreiben, was man jemandem immer schon mal sagen wollte."

Die Szene rührt mich an. Ich liebe es Briefe zu schreiben. In meinem Regal stehen viele Ordner, in denen ich die Antworten abgeheftet habe. Über die Jahre brauchte ich immer weniger Ordner für immer größere Zeiträume: in der Studienzeit hat jedes Jahr seinen Ordner, jetzt ist es einer für mehrere Jahre, in die ich meistens Geburtstags- oder Weihnachtskarten als Antwort abhefte.

Ich freue mich über jede einzelne. Manchmal antwortet jemand mit einem Brief, weitaus häufiger aber mit einem Anruf oder einer Email. Oft mit dem Hinweis, das sei die erste private Post seit langer Zeit.

Mein Eindruck ist: ein Brief ist ein Ereignis geworden.

Was ein bisschen schade ist. Denn für mich ist jeder Brief eine Begegnung. Eine Stunde, in der ich mich ganz auf die andere Person einlasse, überlege, wo unser Gesprächsfaden endete, mich erkundige, wie das Leben mit Freud und Leid weiter ging. Oft nehme ich einen Gedanken auf, der mir nach dem letzten Gespräch nachging, oder den ich erst später verstand.

Ein Brief ist für mich das, was Hefe in einem Teig ist:  Stumme Zwiesprache zwischen zwei Menschen,  die das, was zwischen ihnen ist vertieft und weitet.

Nicht immer müssen es tiefe Gedanken sein. Manchmal ist es einfach eine Wortumarmung.

Die Kleine Inselwasserfrau vertieft sich in ihren nächsten Brief, wieder widmet sie jemandem mehrere eng beschriebene, karierte DIN A4 Seiten. Sicher fünfzehn Briefe wird sie in dieser Urlaubswoche schreiben. Vor meinen Augen wird die Briefkunst entdeckt.

Wie wunderbar.