Mutgeschichten 6

Über Feigheit und Mut

Es war in der Pariser U-Bahn. Ich war noch keine zwanzig und besuchte französische Freunde. An der nächsten Station stolperten zwei pöbelnde, sich stoßende junge Männer und eine junge Frau durch die Waggontüre.

 (DR)

Als sich diese zischend geschlossen hatte  und die Bahn anfuhr, geriet der Streit der jungen Leute außer Kontrolle: Zum Schubsen kam das Schreien.

Und plötzlich hatte einer eine Schusswaffe in der Hand.

Augenblicklich erstarrte ich zur Salzsäule. Konnte keinen klaren Gedanken fassen. Als die Bahn wieder hielt, stürzte ich auf den Bahnsteig.

Die Rücklichter der Bahn leuchteten rot. So wie ich mich fühlte: rot vor Scham. Ja, ich war jung und unerfahren. Und feige: zumindest hätte ich, als ich in Sicherheit war, Hilfe holen können.

Mut. Vom ersten Advent bis zu den Heiligen Drei Königen, das domradio.de Thema. Auch in der Redaktion haben wir Gespräche darüber geführt, dass wir uns wünschen,  im entscheidenden Moment Zivilcourage zu beweisen.

Dabei fällt mir  die Szene aus meiner Jugend in der Pariser U-Bahn wieder ein. Die dann doch noch ein Nachspiel hatte.

Freunden gestand ich meine Feigheit. Sie gestanden, dass sie auch nicht wüssten, was man in so einer Situation machen könnte. Gemeinsam beschlossen wir, dass uns so etwas nie wieder passiert. Und suchten nach Fortbildungsmöglichkeiten, fanden ein Seminar.

Im Spiel saß ich wieder in einer U-Bahn, wieder ein Überfall. Dieses Mal blieb ich sitzen, hatte aber das Gefühl, nichts getan zu haben. Und staunte in der Feedbackrunde später, als der im Spiel angegriffene Bahnnachbar, sagte, niemals hätte er so viel Solidarität erwartet. Was ich getan hatte? Fast nichts. Ich hatte dem Angegriffenen nur meine Hand auf den Rücken gelegt.

Ich staunte auch in einer anderen Szene, in der ich jemandem helfen sollte, der sich auf dem Boden krümmte. Alle liefen an mir vorbei, schauten weg. Bis es mir reichte - und ich laut schrie. Plötzlich halfen welche. "Menschen können wegsehen. Niemand kann weghören", kommentierten die Trainer.

Beide Einsichten, schon kleine solidarische Gesten haben große Wirkung und Schreien ist besser als Schauen, haben mir später oft geholfen.

Statt über Mut, erzähle ich am Tag der Weisen aus dem Morgenland also von Feigheit.

Wenn sie uns hilft, zu lernen nicht mehr feige zu sein, ist das ja fast schon ein bisschen mutig.