Die Vorleserin

Kunst, Kultur und Kulinarisches

Kultursonntag in der Stadt. Aquarelle und Bilder in Öl, Keramik und Steinkunst, bunt gekleidete Street Art Künstler, Straßenmaler. Ein Ohrensessel. Drei Stühle. Und die Einladung: Eine Geschichte nur für Sie.

Die Vorleserin / © Frank Gritschak
Die Vorleserin / © Frank Gritschak

Im Ohrensessel sitze ich, "Die Vorleserin". Und tatsächlich, auf den Stühlen nehmen unentwegt Menschen Platz. Alleine, als Paar, in kleinen Gruppen.

Kunst, Kultur und Kulinarisches ist das Motto des Tages. Aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. Ein bunter Menschenstrom nimmt meine Einladung an: ein junger Mann mit cooler Sonnenbrille und Messengerbag, eine alte Dame im Rollstuhl, eine Gruppe erwachsener Menschen mit Behinderung. Der Pastor  und Messdiener kommen nach dem Gottesdienst, ein stadtbekannter Politiker, ehemalige Nachbarn, ein Geflüchteter aus Guinea. Und Wildfremde sind auch dabei.

Der Menschenstrom bringt mich mit meiner Idee, einen Tag lang die Vorleserin zu sein trotz des kühlen Sommertages ins Schwitzen. Eigentlich liebe ich das Vorlesen. Denn, wie ich es an dieser Stelle schon mal gesagt habe, Vorlesen ist viel mehr als nur vorlesen. Vorlesen erlaubt, gemeinsam den eigenen Seelengrund schimmern zu sehen, öffnet unsere Herzen, die sich in den Raum zwischen uns gießen.

Aber mir war nicht klar, wie herausfordernd es ist, so nah, fremden Menschen in die Augen zu blicken. Wie zwei Ufer stehen wir, Auge in Auge, mit nichts als dem Fluss der Geschichten zwischen uns.

Dabei wechselt das Ufer ständig, schaue ich in immer neue Augenpaare: Wenn ich von Flüchtlingen erzähle, dann sind sie nachdenklich, wenn ich das Meer und die Schönheit der Welt beschwöre, leuchten die Augen in meinen Gegenübern und wenn ich: „Hilfe, ich habe Kitsch geheiratet!“ ausrufe, dann lachen mich die Augen an.

Manche Zuhörer bedanken sich, weil ihnen jahrzehntelang keiner vorgelesen hat. Andere erzählen von Flüchtlingen und Familie, von Tränen und Träumen. Sagen: „Darüber werde ich nachdenken.“ Oder: „Das hat mich berührt.“

Und als mir dann noch ein Zuhörer einen vollen Teller mit kulinarischen Köstlichkeiten, eine andere einen köstlichen Milchkaffee bringt, kann von brotloser Kunst keine Rede mehr sein.

Wie wunderbar.

 


Die Vorleserin 2 / © Frank Gritschak
Die Vorleserin 2 / © Frank Gritschak