Der Konzertflügel

Kulturgüter oder neoliberaler Müll

Eine Minute reichte dem Klavierstimmer, um mit einem einzigen, vernichtenden Blick sein Urteil zu sprechen und wieder aus der Tür zu sein. Mich hatte er im Wohnzimmer stehen lassen.

Konzertflügel / © Angela Krumpen  (DR)
Konzertflügel / © Angela Krumpen ( DR )

Dort fühlte ich mich wie eine Schwerverbrecherin. Dabei wollen wir nur einen Flügel verschenken.

Vor fünf Jahren rief ein  Musikschullehrer von unseren Kindern an: Die Schule habe einen Flügel geerbt und dieser solle nun in sein Unterrichtszimmer gestellt werden. Der Flügel, auf dem er bisher unterrichte, solle deswegen auf den Müll. Aber dieser Flügel klänge wunderschön! Ob wir ihn nicht retten wollten? Leider nein, sagte ich spontan, kein Platz. Aber ja, sagte mein Mann, der zufällig gerade neben mir stand, genauso spontan. Einen Flügel werfe man nicht weg!

Also schufen wir Platz im Wohnzimmer, unserem Zimmer für alles und alle: essen, Nachhilfe geben, Hausaufgaben machen, musizieren, spielen, Filme schauen,  sich abends zusammensetzen oder Besuch bekommen. Unser damaliges Klavier wurde verschenkt, der Flügel kam ins Haus.

Mit der Großen, die Musikerin werden wollte, freute ich mich bald an den schönen Flügelklängen und wunderbaren Hauskonzerten. Der Flügel bekam meine Duldung.

Doch diese Duldung ist jetzt abgelaufen. Die Große studiert Musik, der Flügel wird wenig gespielt. Dafür versperrt er mir den Blick in den Garten, stiehlt seltenes Niederrheinsonnenlicht. Der Flügel soll weiterleben ja, aber doch bitte da, wo sein Leben mehr Sinn macht.

Eine Pianistin und ihre begabte Tochter besichtigen den Flügel, die Augen der Tochter leuchten vom ersten Ton an. Ihr Klavierstimmer hingegen vernichtet das Instrument mit seinem verächtlichen Blick.

Ich rufe unseren Klavierstimmer, der zugleich Restaurateur ist, an. Gewissenhaft legt er das Flügelinnere frei, zeigt jede Schwäche auf. Sagt aber auch: Dieser Flügel sei wie portugiesisches Fado. Fadomusik, erklärt mir Wikipedia, erzähle von unglücklicher Liebe, sozialen Missständen und der Sehnsucht nach besseren Zeiten. Für eine mittlere vierstellige Summe könne die Fadoseele des Flügels wieder singen.

Das Verhalten des ersten Klavierstimmers kann unser Klavierbauer erklären: der sei Klavierhändler, unser 100 Jahre alter Flügel in seinen Augen ein wirtschaftlicher Totalschaden, neue glänzende japanische Yamahaflügel für ein paar tausend Euro hingegen ein gutes Geschäft. 

Was für ein Glück: Die Pianistin folgt nicht den neoliberalen Marktgesetzen. Erhört stattdessen die sehnsuchtsvollen Fadogesänge des Flügels nach besseren Zeiten, gibt ihm ein edles, neues Zuhause und uns ihr altes Klavier.

Wie wunderbar.