Über die treibende Kraft der Sehnsucht

"Unruhig ist mein Herz"

Die unstillbare Sehnsucht nach etwas Höherem, Schöneren, Besseren gehört zum Menschsein wie Essen, Trinken und Atmen. Sie beschäftigt Philosophen, Künstler und Theologen seit Menschengedenken. In der Sendung gehen wir auf Spurensuche nach Sehnsuchtsentwürfen.

Sonnenaufgang über Industrielandschaft / © Julian Stratenschulte (dpa)
Sonnenaufgang über Industrielandschaft / © Julian Stratenschulte ( dpa )

In der Tradition des Kirchenvaters Augustinus stehen viele Menschen, die in Gott die Erfüllung ihrer Sehnsucht suchen. Auch die Sehnsucht nach einem besseren Leben, Liebe oder einem besonderen Ort ist für viele Menschen eine treibende Kraft. Manchmal „verzehrt“ die Sehnsucht, macht krank oder mündet in Weltflucht. Wir gehen auf Spurensuche der religiösen, zeitgeschichtlichen und kulturellen Wurzeln eines innigen Verlangens.

Augustinus und die Sehnsucht

Von dem Kirchenvater, Bischof und Heilige Augustinus stammt das Gebet, „unruhig ist mein Herz, bis es ruhet in dir.“ Augustinus sehnte sich nach Gott, aber für ihn war diese Sehnsucht eine intellektuell inspirierte Suchbewegung, die er im Dialog mit Gott, dem Gebet, verinnerlichte. Augustinus-Kenner und Philosophie-Professor Christoph Horn von der Universität Bonn erklärt auch die neuplatonischen Wurzeln dieser Suchbewegung des spätantiken Rhetorik-Stars Augustinus.

In der Romantik

Wie sehr die Romantik vom Sehnsuchtsgedanken erfüllt war, erzählt uns der Philosoph Rüdiger Safranski. Anders als Augustinus, der Ruhe finden wollte in Gott, waren die Romantiker des 19. Jahrhunderts im Unruhezustand. Für sie war nicht der Gott der Offenbarung das Ziel ihrer Sehnsucht, sondern „das Transzendieren, das Gefühl der Unendlichkeit“ entscheidend. „Sie waren in das Gefühl der Sehnsucht verliebt.“, sagt Safranski. In der Romantik ist die Sehnsucht die Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln – vor allem in der Poesie und der Literatur. Sie waren von der Kraft ihres schöpferischen Selbst überzeugt. Sie wollten niemals in ihrem sehnsüchtigen Verlangen an einem Ziel ankommen. Für die heutige Zeit der Digitalisierung sieht Safranski keine Chance für die Sehnsucht, denn die vorherrschende Knopfdruck-Mentalität erlaube keine Zwischenräume des Wartens mehr.

Über Erlösung, Liebe und Todessehnsucht in Oper und Theater

Eine große Rolle spielt die Sehnsucht in der Oper, weiß die Opernintendantin Dr. Birgit Meyer. Doch sie hat keine explizit religiöse Zielrichtung, sondern handelt von der Sehnsucht nach meist unerfüllter Liebe oder Erlösung. Auch in der modernen Oper wird das Sehnsuchtsmotiv weitergewoben. Zum Beispiel in Walter Braunfels‘ „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ manifestiert sich die Sehnsucht nach Freiheit und einer unerschrockenen, moralisch unangreifbaren Vorbildsfigur.

Am Beispiel von William Shakespeare’s „Hamlet“ geht der Kölner Schauspielintendant dem Motiv der Todessehnsucht auf die Spur. Für ihn ist Hamlet ein junger Anti-Held voller Schwächen, der sich nicht mehr in der Welt auskennt. Seine Todessehnsucht ist ambivalent, weil er einerseits sich an einen Zustand des Träumens außerhalb der Welt sehnt, aber andererseits nicht sicher sein kann, ob dahinter nicht das Grauen sich verbirgt. Auf poetisch-philosophische Weise drückt sich dieser Konflikt in dem berühmten Monolog „Sein oder Nichtsein aus“.

Über die Sehnsucht als Motivation und Motiv in der Kunst

Künstler sind getrieben von ihrer Sehnsucht nach kreativen Schaffensprozessen, weiß Dr. Marc Steinmann, stellvertretender Direktor des erzbischöflichen Kunstmuseums Kolumba. Sie kommen nie mit ihrer Sehnsucht, etwas zu erschaffen, an ein Ende. Die Sehnsucht der Menschen nach fernen Ländern („Iphigenie“ von Anselm Feuerbach) ist ein Dauerbrenner-Sehnsuchtsmotiv. In Werken der moderne Werke wie von Neo Rauch oder in der Aktionskunst finden wir das Motiv des Unbestimmbaren und Flüchtigen

Von Wildgänsen und dem Johannes-Evangelium

Sehnsucht hat nichts mit dem Wunsch zu tun, das neuste Smartphone oder ein ruhiges Wochenende zu erleben, sagt Buchautorin Andrea Schwarz. Der Blick in den Himmel auf die Wildgänse, die sich auf dem Flug in ihr Winterquartier befinden, lassen das tief liegende Gefühl der Sehnsucht aufsteigen. Sie folgen unbeirrbar ihrem Ziel, das in weiter Ferne liegt. Aber auch in den Ich-Worten im Johannes-Evangelium finden sich spirituelle Wege der Sehnsucht. Für Andrea Schwarz führen viele Wege zur Sehnsucht, die Leben in Fülle bringt. Entscheidend ist, sich nach der Sehnsucht zu sehnen.

Birgitt Schippers

(Erstausstrahlung: 22.03.2017)