Wie Sherry eine zweite Familie bekam

Von Afghanistan nach Aachen

Als er aus Afghanistan nach Deutschland kam, war Sherry 14 Jahre alt. Hinter ihm lag damals eine Flucht durch neun Länder – per Boot, zu Fuß und im Kofferraum eines Autos. Knapp vier Jahre später hat er in Aachen eine zweite Familie gefunden.

Sherry und seine Patenfamilie / © Janina Schreiber
Sherry und seine Patenfamilie / © Janina Schreiber

Wenn er alleine in seiner Wohnung sitzt, dann kommen sie manchmal zurück: Die Erinnerungen an die Vergangenheit in Afghanistan und die Flucht nach Deutschland. "Wäre meine Patenfamilie nicht gewesen, wäre ich wieder abgehauen oder untergetaucht", der 18-jährige Sherry blickt zu Boden. Viele junge Flüchtlinge verstehen Deutschland nicht. Es gäbe nur wenige Anlaufstellen für sie in der Gesellschaft. Sie seien verunsichert. Deshalb machen sie Probleme, erzählt der junge Afghane.

Der katholische Verein für soziale Dienste (SKM) hat sich diesem Problem in Aachen angenommen. Mit dem Projekt der Aachener Hände vermittelt der Verein Paten für jugendliche unbegleitete Flüchtlinge. Das betrifft alle Einwanderer, die alleine geflohen sind und in Deutschland keinen gesetzlichen Vormund haben. Kurz bevor die Jugendlichen 18 Jahre alt werden, teilt der Verein ihnen einen Paten, einen Ansprechpartner, zu. Der Freiwillige hilft bei der Wohnungssuche, organisiert Nachhilfe-Unterricht und verbringt Zeit mit dem Jugendlichen. Denn der hat häufig einiges durchgemacht.

Auch Sherry war gerade erst 14 Jahre alt, als er in Aachen ankam. Den Entschluss zur Flucht nach Deutschland habe er damals gemeinsam mit seiner Mutter gefasst. "Ich hatte große Probleme in Afghanistan", sagt Sherry. Sein Onkel, ein Anhänger der Taliban, sei für den Mord an seinem Vater verantwortlich. Seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester leben noch immer in Afghanistan, in einem kleinen Dorf im Nord-Osten Afghanistans, direkt an der Grenze zu Pakistan. Als auch für den damals 14-Jährigen Sherry die Taliban immer bedrohlicher wurde, floh er nach Europa. Sechs Monate ist er unterwegs gewesen: Mit dem Boot, mit dem Auto aber vor allem zu Fuß. "Manchmal bin ich tagelang gelaufen. Ohne Nahrung, nur mit ein bisschen Wasser", beschreibt er den Weg nach Deutschland. Durch insgesamt neun Länder führte der. Manchmal auch dicht gedrängt, zusammen mit anderen Kindern im Kofferraum des Autos eines Schleusers. Sherry kann sich nicht an alles erinnern, doch einige Bilder blieben im Gedächtnis, sagt er. In Griechenland zum Beispiel habe er stundenlang auf einem schwarz geteerten Hof in der prallen Sonne verbracht – ohne Schuhe. "Der Grenzbeamte dort mochte mich wohl nicht", erzählt Sherry.

Die Menschen wollen auf eigenen Beinen stehen

Anna Klein vom Verein der Aachener Hände kennt diese Geschichten. Die ganze Situation sei sensibilisiert, jegliche Stellen überfordert, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Die Flüchtlinge seien verunsichert. "Es ist nicht transparent, ob und wie lange sie bleiben dürfen, sagt Klein. Und dann ginge es los, das "Kopfkino", in dem sich die schlechten Erinnerungen der Vergangenheit und die Sorgen über die Zukunft abspielen. Auch in Sherrys Kopf drehen sich manchmal diese Bilder: "Wenn ich alleine in meiner Wohnung sitze und nichts zu tun habe, dann fange ich an zu grübeln." Doch seit elf Monaten hat Sherry ein Mittel dagegen. Seine Paten Monika und Josh Bücken sind da, wenn Sherry Hilfe braucht. Schon nach wenigen Wochen war klar: Montagmorgen ist Sherry meist zu spät in der Schule. In Gesprächen habe Monika Bücken herausgefunden, dass es eben jenes "Kopfkino" ist, das Sherry an manchen Abenden nicht einschlafen lässt. Manchmal schläft er deshalb bei den Bückens. Die haben ein eigenes Zimmer für Sherry in ihrem Haus in der Nähe von Aachen.

Solche Probleme wie das mit dem Einschlafen zeigen sich erst im Zusammenspiel mit den Jugendlichen, weiß auch Anna Klein. Deshalb seien die Paten für die Flüchtlinge so wichtig. Insgesamt haben die "Aachener Hände" mittlerweile 95 Patenschaften vermittelt, bis März sollen es 100 werden. Das Angebot an weiteren Paten sei groß, nur die zusätzliche Vermittlungsarbeit könne der Verein bisweilen noch nicht stemmen, sagt Klein. Doch wie sinnvoll das Projekt ist, habe sich auch am Beispiel von Sherry und den Bückens gezeigt. Der will in diesem Jahr noch seinen Hauptschulabschluss machen. Immer mittwochs hospitiert er in dem kleinen Unternehmen von Josh Bücken als Kälte- und Klimatechniker. Sherrys Augen leuchten, wenn er von der Zukunft spricht: "Ich will auf eigenen Beinen stehen, ich will irgendwann eine Familie ernähren können." Das wichtigste dafür sei eben erst einmal seine Schulbildung. Erste Erfolge habe er bereits. Erst letzte Woche schrieb er eine eins im Diktat in Deutsch. Das motiviert. Genauso wie der Rückhalt der Familie Bücken.

(Erstausstrahlung am 19.12.2015)