BWV 95 - 16. So. n. Trinitatis

Bachkantate am 27. September 2009

"Christus, der ist mein Leben": So ist die Kantate überschrieben, die Johann Sebastian Bach für den heutigen Sonntag komponiert hat und das Lied, das als Grundlage für diese Kantate diente, gehört bis heute zu den beliebtesten Kirchenliedern. Im katholischen Gebet- und Gesangbuch Gotteslob ist das Lied unter der Nummer 662 zu finden.

 (DR)

Bachs Kantate ist in seinem ersten Jahr in Leipzig entstanden, also 1723. Der unbekannte Textdichter nimmt das Evangelium, das am heutigen Sonntag von der Auferweckung des Jünglings zu Nain berichtet, zum Anlass, seiner Todessehnsucht und Weltverachtung Ausdruck zu geben. Obwohl er dabei auf den Jüngling zu Nain nicht ausdrücklich anspielt, so macht doch das letzte Rezitativ, das die Begründung für den Sterbenswunsch enthält, den Zusammenhang hinreichend deutlich. Da heißt es: "Denn ich weiß, dass ich aus meinem Grabe ganz einen sichern Zugang zu dem Vater habe. So kann ich nun mit frohen Sinnen mein selig Auferstehn auf meinen Heiland gründen". Jesus wird also, so sagt es der Dichter, wie damals den Jüngling zu Nain, so einst auch den gläubigen Christen auferwecken. Auffällig und in dieser Anordnung ungewöhnlich ist die Vielzahl der in den Text eingebauten Choralstrophen. So hat der Dichter nicht mehrere Strophen desselben Liedes, sondern die Eingangsstrophe aus drei verschiedenen Chorälen ausgewählt: "Christus, der ist mein Leben" und das Luther-Lied "Mit Fried und Freud ich fahr dahin" bilden den ersten Satz, "Valet will ich dir geben", den dritten Satz und den Schluss der Kantate bildet die 4. Strophe des Liedes "Wenn man Stündlein vorhanden ist", so dass die Kantate insgesamt vier Choralstrophen enthält.

Durch eine synkopisch rhythmisierte, terzen- und sextenreiche Melodik wird im Eingangssatz die Todessehnsucht zum Ausdruck gebracht. Eingefügt in den Orchestersatz ist der schlicht- vierstimmige, vom Chor mit Verstärkung eines Horns vorgetragene Choral. Die Dehnung der Verszeile "Sterben ist mein Gewinn" scheint auf eine alte Leipziger Tradition zurückzugehen.  Das  anschließende Tenorsolo, das zwischen Arioso und Rezitativ wechselt, ist durch motivische Instrumente mit dem Eingangschoral thematisch verbunden. Danach setzt unvermittelt der zweite Choralsatz ein.  

Nach dem großangelegten Eingangskomplex folgt, eingerahmt je durch ein Rezitativ, die einzige Arie der Kantate, ein Satz von besonderer Schönheit. Die instrumentale Führung liegt bei den Oboen; die Begleitfiguren der gezupften Streicher imitieren das Geläut der Sterbeglocken.  Wie schon bei dem Choral "Mit Fried und Freud" im 1. Satz, so ist auch der Chorsatz des Schlusschorals zur Fünfstimmigkeit erweitert durch eine hoch oben schwebende Stimme der 1. Violine. Ein Sinnbild der Jesussehnsucht, die das ganze Werk durchzieht. Diese Todessehnsucht, diese Verachtung der Welt, ist für die Barock-Zeit ganz typisch. Das Leben wird nur als Vorstufe und als Zeit der Prüfung für das bevorstehende ewige Leben angesehen; der Tod ist daher Befreiung und Erfüllung der Sehnsucht. Nur aus dieser Perspektive heraus ist die Kantate von ihrer musikalischen Gestaltung her zu verstehen.

"Christus, der ist mein Leben", BWV 95.
Tölzer Knabenchor, Concentus musicus Wien, Leitung: Nikolaus Harnoncourt.  

Quelle: Alfred Dürr: Die Kantaten von Johann Sebastian Bach. Bärenreiter 1995.