BWV 35

12. Sonntag nach Trinitatis

"Geist und Seele sind verwirret": So hat Johann Sebastian Bach seine Kantate für den heutigen 12.Sonntag nach Trinitatis überschrieben oder besser gesagt: Der Darmstädter Hofbibliothekar Georg Christian Lehms, denn von ihm stammt der Text der Kantate.

 (DR)

Lehms lehnt sich eng an das Evangelium des Sonntags an: Die Wunder Gottes, von denen das Volk erzählt, sind so groß, sagt die Eingangsarie, dass Geist und Seele bei ihrer Betrachtung verwirrt verstummen. Die Orgel, die mit sehr lebhaften Figuren in diesem Satz auftaucht, soll die Wunder darstellen; die Pausen, die im Thema der Melodie immer wieder auftauchen, machen das Verstummen vor den Wundern, von dem im Text die Rede ist, hörbar.



Das folgende Rezitativ erwähnt die Taubstummenheilung, von der das Evangelium berichtet, noch direkter: "Den Tauben gibt’s du das Gehör, den Stummen ihre Sprache wieder".  



Der Schluss des biblischen Berichts bildet die Vorlage für die zweite Arie: "Gott hat alles wohlgemacht". Und mit dieser Arie ändert sich auch das Tongeschlecht dieser Kantate: Von Moll tritt die Kantate nun zum ersten Mal in einen eindeutigen Dur-Bereich, der den froh-bewegten Charakter und damit die Aussage dieser Arie unterstützt.



Mit dieser Arie endet der erste Teil der Kantate, der vor der Predigt aufgeführt wurde. Der zweite Teil war dann nach der Predigt zu hören. Dieser wird durch einen raschen Sinfoniesatz eröffnet, dann folgt das Rezitativ: Gott möge der versammelten Gemeinde die Ohren öffnen und die Zunge lösen, ihn zu preisen und sich somit als Gottes Kinder und Erben zu erweisen.



Diese Erbschaft des Gottesreiches ist das eigentliche Ziel des Christenlebens, und so schließt die Dichtung mit dem Wunsch, recht bald vom "jammerreichen Schmerzensjoch" dieser Erde befreit, bei Gott mit allen Engeln "ein fröhliches Halleluja" zu singen, wie es im Text heißt. Im Unterschied zu vielen anderen Kantaten lässt Bach diese Kantate nicht mit einem einfachen Schlusschoral enden, sondern mit dieser sehr freudigen und tänzerischen Arie.



Bachs Komposition ist zum 8. September 1726 entstanden. Die Textdichtung ist eine regelrechte Cantata im Sinne der Terminologie der damaligen Zeit, da sie auf Zitate aus der Bibel und Choralsätze verzichtet und nur madrigalische Dichtung enthält. Bach folgt diesem textlichen Vorbild, verzichtet daher auch auf einen Chor und überträgt alle Gesangspartien dem Solo-Alt. Offenbar stand ihm zur dieser Zeit ein besonders fähiger Altist zur Verfügung.



BWV 35: "Geist und Seele sind verwirret".

Paul Esswood, Alt, Concentus musicus Wien, Leitung: Nikolaus Harnoncourt.



Quelle: Alfred Dürr: Die Kantaten von Johann Sebastian Bach. Bärenreiter 1995.