Gedanken zum Advent

Bischof Karl-Heinz Wiesemann (Bistum Speyer)

Auch 2012 haben deutsche Kardinäle, Bischöfe und Weihbischöfe für domradio.de ihre Gedanken zum Advent aufgezeichnet. Sie erzählen von Geschehnissen, die ihnen in diesem Jahr besonders in Erinnerung geblieben sind, von Situationen, die die Welt bewegt haben, von Ereignissen, die noch bevorstehen und natürlich von der Vorfreude auf Weihnachten. Heute mit Bischof Karl-Heinz Wiesemann aus dem Bistum Speyer.

 (DR)

Wachsamkeit ist die Tugend des adventlichen Menschen. Die Wachsamkeit steht zunächst einmal gegen das Schlafen, gegen die Möglichkeit, etwas Wesentlichen und Entscheidendes zu verschlafen. Menschen bleiben nächtelang wach, um Entscheidungen über Sieg und Niederlage bei politischen Ereignissen, oder sportlichen Events unmittelbar live zu erleben. Am nächsten Morgen umweht dieselben Nachrichten schon der Hauch des Vergangenen. „Dabei sein ist alles“- der Spruch drückt ein menschliches Grundbedürfnis aus. Wer dabei ist, steht noch mitten im Leben, am Puls der Zeit. Wer nicht mehr dabei ist, ist geistig gesehen schon tot. Die lateinische Sprache hat hierfür das Wort Interesse, von dem unser deutsches  Interesse  abgeleitet ist. „Inter esse“, das heißt wörtlich: dazwischen sein, mitten drin sein, nicht am Rande stehen. Wer Interesse aufbringt, wer interessiert ist an den Vorgängen der Gegenwart, an den Zeichen der Zeit, der ist wach und geistesgegenwärtig, im wahrsten Sinne des Wortes. Wer sich dagegen einfach mittreiben lässt von den Wellen und Strömungen der Zeit, wer sich einlullen lässt von ihren Moden, der mag sich selbst noch so sehr „up-to-date“ fühlen, die falsche Sicherheit,  „in“ zu sein, die er sich gibt, lässt ihn unweigerlich den Moment der Entscheidung verschlafen. Solche entscheidenden Augenblicke gibt es in jedem Leben. Momente, bei denen alles darauf ankommt, sie geistesgegenwärtig zu ergreifen oder sie tragischerweise zu verpassen. Das entscheidende Wort, das in einem Moment hätte gesprochen werden müssen, die couragierte Tat, die in einer bestimmten Situation hätte erfolgen müssen. Was im Kleinen in unserer persönlichen Lebenswelt gilt, das gilt auch für die große Welt- und Zeitgeschichte. Uns ist der Geist Gottes gegeben, damit wir wahrhaft geistesgegenwärtig die Zeichen der Zeit erkennen und deuten können. Vor 50 Jahren hat uns das II.Vatikanische Konzil dazu aufgefordert, geistesgegenwärtig unseren Glauben zu leben und die Zeichen unserer Zeit zu erkennen und aus dem Glauben zu deuten. Der selige Papst Johannes XXIII. sprach diesbezüglich von notwendigen „aggiornamento“ der Kirche in der Welt von heute, was sicherlich nicht kritiklose Anpassung meinte, sondern Verheutigung als wache Geistesgegenwart. Damit hat uns die Kirche gelehrt, unsere heutige Zeit adventlich zu deuten, als eine Zeit, in der Gott mitten in unserer Welt ankommen will und die Zeichen der Zeit uns dazu auffordern, dass wir uns für den Tag des Herrn, für seine Ankunft rüsten. So bedeutet adventliche Wachsamkeit liebende, aber nicht unkritische Aufmerksamkeit der eigenen Zeit gegenüber. Liebende Aufmerksamkeit, weil auch unsere Zeit und unsere Welt Gottes Schöpfung, Gott geschenkte Zeit und Welt ist, in der selbst das niedrigste und verachteste, wie Krippe und Kreuz zum Ort göttlicher Offenbarung werden kann. Kritische Aufmerksamkeit, weil auch unsere Welt und Zeit Ort und Zeitpunkt der  Entscheidung ist, über Sieg oder Niederlage.  Oder besser: über Rettung oder Verderben. So kennzeichnet den Advent zweierlei: Die freudige Erwartung der Ankunft des Herren, der als Bräutigam kommt, Hochzeit zu halten und die entscheidende Herausforderung an einen jeden von uns: Ort und Zeit dieser Hochzeit nicht zu verschlafen. „Wohlauf, der Bräutigam kommt, steht auf, die Lampen nehmt, macht Euch bereit zu der Hochzeit, ihr müsset ihm entgegengehen.“