Ulrich Woelk über Frauen in den späten sechziger Jahren

'Der Sommer meiner Mutter'

1969. Aufbruchstimmung. Die 68er weckten Sehnsüchte nach Freiheit und Emanzipation. Für viele Frauen, die sich in ihrer Hausfrauenrolle gefangen sahen, war das ein großes Versprechen. In 'Der Sommer meiner Mutter' gibt Ulrich Woelk den Frauen dieser Zeit eine Stimme.

Ulrich Woelk / © Bettina Keller
Ulrich Woelk / © Bettina Keller

"Wir könnten unsere Zeit, so wie sie jetzt ist, nicht verstehen, wenn wir uns die 60er Jahre nicht angucken würden", sagt Ulrich Woelk. Der Autor siedelt seinen Roman 'Der Sommer meiner Mutter' im Jahr 1969 an. 'Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben'. Mit diesem Pauklenschlag-Satz beginnt das Buch. Der elfjährige Tobias erlebt diesen Sommer und erzählt aus der Rückschau, was damals passiert ist. Alles beginnt sehr harmonisch. Vater, Mutter, Sohn leben in einem idyllischen Vorort von Köln. "Die heile Welt der späten sechziger Jahre war oftmals nur eine sehr schöne Oberfläche", sagt Ulrich Woelk. "Was für Verdrängungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte unter dieser Oberfläche versteckt und verdrängt wurden, das ist das eigentliche Thema dieses Buches".

Jeans statt Faltenrock

Versteckte Sehnsüchte der Frauen, die in ihrer Mutter- und Hausfrauenrolle gefangen waren. Im Fall von Tobias Familie werden diese Sehnsüchte geweckt, als die Professoren-Familie Leinhard ins Nachbarhaus einzieht, die voll auf dem 68er Trip ist. "Die Leinhards sind zehn Jahre jünger und stehen für den gesellschaftlichen Umbruch, dem sie sich anschließen", sagt der Autor, "das ist die Befreiungsbewegung, insbesondere die Befreiung der Frau". Die Mutter von Tobias fühlt sich von der neuen Zeit angezogen.

Eine Szene macht das im Roman besonders deutlich. Für ihren Sohn Tobias kauft sie eine Jeans und probiert dann im Geschäft selbst eine der modernen Hosen an, kauft sie aber doch nicht. Das heißt, sie möchte ihren Rock loswerden, sie möchte aus ihrer Hausfrauenrolle ausbrechen, ist aber zugleich von dem, was sie all die Jahre gelebt und internalisiert hat, so sehr gefangen, dass ihr der Ausbruch nicht gelingt. "Auf der einen Seite war bei den Frauen damals dieses Gespür da, dass die Gesellschaft in den späten Sechzigern eigentlich in die richtige Richtung marschiert. Trotzdem wissen sie, ich kann da nicht mehr so mitgehen", beschreibt Woelk diese innere Spannung. "Deswegen scheitert auch dieser Befreiungsversuch. Sie kann nicht eins zu eins geradlinig sagen, das ist richtig, das mache ich, ich befreie mich, das geht eben nicht".

Die 68er Machos

Ulrich Woelk erzählt vom Schicksal der Frauen in den späten sechziger Jahren, von ihrer Zerrissenheit, auch von den Machoposen der 68er Männer, die emanzipiert taten, aber im Grunde die althergebrachte patriarchale Dominanz übernommen haben. "Ein Schlachtruf von damals lautete: 'Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment'. Mehr Macho geht ja gar nicht", sagt Ulrich Woelk. "Die Frau erscheint nur als Objekt 'die Gleiche' und der Mann ist derjenige, der die Zügel in der Hand hält und sagt: mit der, mit der und nur nicht zweimal mit der Gleichen. Und die Männer haben das ja damals gar nicht selber durchschaut, wie Machismo-mäßig dieser Spruch ist, die haben gedacht, dass sei jetzt der Aufriss gegen das Bürgertum. Das war er aber gar nicht".

1969 – das war auch das Jahr der ersten Mondlandung. Technisch schien alles möglich zu sein, während die Gesellschaft noch im moralischen Werte- und Familiensystem des vergangenen Jahrhunderts lebte. Ulrich Woelk erzählt erhellend von den Umbrüchen dieser Zeit - aus der Perspektive der Frauen – und aus der Sichtweise eines elfjährigen Jungen, der nicht versteht, was da passiert, der aber spürt, dass die Zeit aus den Fugen gerät. Seine Erfahrungen sind brutal und markieren das Ende seiner Kindheit und Unschuld und zugleich das Ende einer Epoche, die alles andere als unschuldig war.

Was hat die Emanzipation gebracht?

Am Ende des Romans bleibt auch die Frage, was sich seit der Emanzipations- und Befreiungsbewegung der späten 60er Jahre getan hat? Die alten Rollenbilder haben sich verändert, das heißt aber nicht, dass Frauen wirklich gleichberechtigt sind, im Gegenteil, die Ansprüche, die an die moderne Frau gestellt werden, drohen sie zu zerreißen. "Bei den Männern hat sich gar nicht so viel getan", sagt Ulrich Woelk, "während die Frauen noch viel mehr aufgebürdet bekommen haben. Sie sollen sich weiterhin um die Kinder kümmern, sie sollen auch noch berufstätig sein, dazu natürlich phantastische Liebhaberinnen sein und so weiter und so fort. Wir sind da noch lange nicht am Ende dieser Entwicklung angekommen".


Quelle:
DR