Ulf Stolterfoht über "Neu-Jerusalem“

Der Versuch, den hohen Ton zu treffen

"Jeder Text läßt sich ideologisch lesen – auch die Bibel“, sagt Ulf Stolterfoht. Der Lyriker erzählt in seinem neuen Buch "Neu-Jerusalem“ wie Sekten aus Bibeltexten Ideologie machen.

Ulf Stolterfoht / © Dirk Skiba
Ulf Stolterfoht / © Dirk Skiba

Stolterfoht hat sich mit radikalen Pietisten im 18. und 19. Jahrhundert beschäftigt. "Am Anfang waren die Sekten sehr freiheitlich, und dieses Freiheitliche ist dann in etwas Schreckliches und Totalitäres umgekippt“, sagt der Dichter: "Ursprünglich war ihr Freiheitsversprechen auch eine Abkehr von der Amtskirche. Sie sagten sich: ´Wo immer drei zusammen sind und eine Bibel, da ist die Kirche´. Das war damals revolutionär und hat sich dann ganz schnell in etwas Rückwärtsgewandtes verwandelt“. Ihn interessiert, wie Menschen, die mit großen Freiheitsidealen gestartet sind, zu Tyrannen werden.

"Neu-Jerusalem" in einem Hüttendorf

Dem Dichter geht es in seinem Buch nicht darum, den Glauben zu diskreditieren. "Es geht eher darum, wie aus Text Ideologie wird“, sagt er. Die Sekte in seinem Gedicht ´Neu-Jerusalem´, angeführt von der "Mutter Johanna“, findet in Berlin Schöneberg ein zuhause – nicht weit vom Wohnsitz des Autors. "Da gab es tatsächlich lange Zeit so ein kleines Hüttendorf an der S-Bahn. Ich habe mir vorgestellt, dieses Hüttendorf müßte eigentlich die Kolonie ´Neu-Jerusalem´ sein.

Euphorie-Erfahrungen beim Lesen der Bibel

Stolterfoht beginnt seinen Text mit vier Seiten aus der biblischen ´Offenbarung des Johannes´. Hier wird die Endzeit beschworen – für viele Sekten sind diese Verse Schlüsselszenen der Bibel. Ulf Stolterfoht hat sie während seines Jahres als Stipendiat der Villa Massimo in Rom gelesen. Inhaltlich ist ihm die ´Offenbarung´ eher fremd geblieben, ein "Unfug“ sei das doch, sagt er, überzeugt hat ihn aber die enorme poetische Kraft dieses Textes, die bei ihm durchaus eine "Euphorie-Erfahrung“ ausgelöst habe. Sein Buch "Neu-Jerusalem“ ist ein aufregender Text, ein Lang-Gedicht, oft komisch auch lustig, wenn religiös pathetische Sequenzen auf Alltagssprache prallen. Immer wieder findet man aber auch Verse, die eine eigene religiöse und poetische Energie haben. "Das wäre auch bescheuert, wenn man den hohen Ton wählt und dann nicht das macht, was der hohe Ton kann. Also wenn man sich nur darüber lustig macht, dann verschenkt man es eigentlich – dann muss man es nicht machen“, sagt Stolterfoht.