Susanne Klingenstein über ‚Die Reisen Benjamins des Dritten`

Auf der Suche nach Erlösung

Das Heilige Land war immer ein Sehnsuchtsort. Seit Ewigkeiten brechen Menschen auf, um dort Erlösung zu finden. Das galt besonders für Juden, die zunehmendem Antisemitismus ausgeliefert waren. So bricht auch Benjamin in dem Roman: "Die Reisen Benjamins des Dritten" auf.

Susanne Klingenstein / © Garry Melnick (Hanser)
Susanne Klingenstein / © Garry Melnick ( Hanser )

Der jiddische Autor Scholem Jankew Abramowitsch war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Bestsellerautor. Heute gilt er als Klassiker der jiddischen Literatur. Bettelarm wuchs er auf. Sein Vater starb, als er 13 Jahre alt war, und seine mittellose Mutter schickte ihn, einen von sechs Kindern, in litauische Lehranstalten, wo er seine Jugend lesend verbrachte. Nach der Schule zog er ein Jahr mittellos als Bettler über das Land, erzählt Susanne Klingenstein. „Er hatte überhaupt keine beruflichen Perspektiven und so zog er mit einem professionellen Bettler 1851 durch die Ukraine. Dort hat er das Erfahrungsreservoir auch für seine späteren Romane geschaffen. Die Begegnung mit der jüdischen Armut, das Bettelwesen“.

Zwei Männer machen sich auf den Weg

Diese Erfahrungen läßt der Autor Abramowitsch auch in seinen Roman: ‚Die Reisen Benjamins des Dritten‘ einfließen. Des Dritten, weil es in der damaligen Welt schon zwei prominente Benjamine gab, die in den Osten aufgebrochen waren, um nach Erlösung zu suchen. Die Reiseberichte der beiden Benjamine kannte damals jeder. Genauso bricht also Benjamin der Dritte zusammen mit seinem Kompagnon Senderl auf. Die beiden brechen auch aus, denn sie stehen unter der Knute ihrer schuftenden Ehefrauen. Im zaristischen Russland durften jüdische Männer nicht arbeiten. Also saßen sie den ganzen Tag lesend in Bethäusern. Susanne Klingenstein sagt, dass hier ein Rollentausch stattgefunden habe. Die jüdischen Männer waren gezwungen, in Frauenrollen zu schlüpfen, eben weil sie nicht arbeiten und Geld verdienen durften. Wenn Abramowitsch in seinem Roman von zwei Männer erzähle, die aus dieser Rolle ausbrechen, dann sei dieser Ausbruch auch eine versteckte Kritik an dem Arbeitsverbot. „Dieser Aufbruch ist ein Neuanfang“, erzählt Klingenstein. „Es ist ihre Möglichkeit der Aktivität. Es gab damals schon eine Reiseliteratur des Aufbruchs ins Heilige Land, um Erlösung zu suchen und dort zu siedeln“.

Ausbruch und Aufbruch ins Heilige Land

Also brechen die zwei Burschen, Benjamin und Senderl, auf. Sie fliehen aus ihrer häuslichen Gefangenschaft und suchen das gelobte Land. Aber das sei nur eine von vielen erzählerischen Ebenen in dem Roman, erklärt die Literaturwissenschaftlerin Klingenstein. In einer weiteren Ebene gehe es in dem Buch um den damals immer weiter um sich greifenden Antisemitismus. „Den gab es sowohl in Russland als auch in den 1870er Jahren zunehmend im Westen“, erklärt Klingenstein. „1873 kommt zum ersten Mal das Wort Antisemitismus in Deutschland auf. So konnten sich die russischen Juden nicht in die russische Gesellschaft integrieren, sie konnten aber auch nicht in den Westen auswandern“. Den Juden, hier konkret den beiden Burschen Benjamin und Senderl, blieb also nur der Osten, das Heilige Land als Ausweg und Perspektive, sich zu befreien.

Benjamin - Betrüger oder Idealist - oder Beides?

 Der Romanheld Benjamin ist ein gewitzter Tolpatsch. Die Ähnlichkeit mit Don Quichotte fällt ins Auge, wobei Senderl sein Sancho Pansa ist. Die beiden jiddischen Reisenden kämpfen aber nicht gegen die Windmühlen der fiktiven Riesen in schlechten Ritterromanen, sondern sie kämpfen für eine bessere Welt, die in der Bibel und in den Reiseberichten ins Heilige Land versprochen wird. „Er ist einer, der an Bücher glaubt. Er ist einer, der an das Heilsversprechen glaubt“, beschreibt Klingenstein seinen Charakter. „Als praktischer Mensch erlöst er sich durch Flucht aus seiner häuslichen Zwangslage. Er möchte einfach nur weg. Dieses Weg-Sein verbrämt er mit großen Worten“. Er gehe nicht fort, weil er zuhause unterdrückt werde und das nicht mehr aushalte, das behaupetet Benjamin gar nicht. Er gehe weg, weil er die Juden erlösen wolle, gibt er großspurig vor. „Also könnte man sagen, dass er ein kleiner Betrüger ist, weil er sein pragmatisches Ausbüchsen mit großen Worten verbrämt“, sagt Susanne Klingenstein.

Die Hoffnung sollte man nie aufgeben

Das könnte man so sehen – oder auch nicht? Denn Benjamin glaubt doch an seine großen Worte, und warum sollte das der Leser nicht auch tun, denn Idealisten sind doch keine Schwindler. „Er bricht auf, um Erlösung für die russischen Juden zu holen, wie es auch Herzl ja versprochen hat: 'Wir machen unser eigenes Land'. Wenn man das glaubt, dann ist er ein großer Idealist, dann muss man ihn positiv und nicht als Betrüger sehen. Das Herausfordernde an Abramowitschs Roman ist, dass immer beide Seiten wahr sind und es immer darauf ankommt, wie sie es sehen“. Über 140 Jahre ist es her, dass Abramowitsch seinen Roman über den witzigen und gescheiten Benjamin geschrieben hat. Da könnte man meinen, es läge viel Staub auf diesem Buch. Nein, sagt Susanne Klingenstein, viel ließe sich aus diesem zeitlosen Roman auch heute noch lernen. „Dass man Geduld fürs Leben braucht. Dass man sehr viel lesen sollte und dass man, selbst wenn die Welt so ist, wie sie nicht sein sollte, die Hoffnung nicht aufgeben sollte, dass man selbst etwas in der Welt ändern kann. Die beiden Helden brechen in dem Roman auf, um etwas in der Welt zu ändern“.


Quelle:
DR